Okertal-Atlantis. Marie Kastner
Okertal-Atlantis
Marie Kastner
XOXO Verlag
Hinweis:
Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten rund um diese Geschichte sind, abgesehen freilich von diversen Ortschaften im Harz und der 1956 tatsächlich erfolgten Flutung des früheren Dorfes Alt-Schulenberg, frei erfunden.
Dasselbe gilt bezüglich der beschriebenen Personen und Vorgänge im Revierkommissariat Wernigerode und der Polizeiinspektion Goslar.
Eventuelle Ähnlichkeiten, lebende sowie verstorbene Menschen und auch deren Handlungen betreffend, sind von Autorin Marie Kastner keineswegs beabsichtigt. Sie wären gegebenenfalls rein zufällig.
Für im Text genannte Markennamen gilt: Es ist nicht die Absicht der Autorin, diese in einen negativen Kontext mit der Romanhandlung zu bringen.
Impressum
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Print-ISBN: 978-3-96752-042-2
E-Book-ISBN: 978-3-96752-542-7
Copyright (2020) XOXO Verlag
Umschlaggestaltung (Collage): Ulrich Guse,
Art Fine Grafic Design, Orihuela (Costa), Spanien
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Schweigen kann die grausamste Lüge sein
Zitat von Robert Louis Stevenson
Kapitel 1
Eine Leiche zur Unzeit
25. August 1954, Schulenberg im Okertal
Im Taleinschnitt der Oker wurde es ein wenig früher dunkel als anderswo im Harzvorland, was insbesondere für die Wintermonate galt. Selbst jetzt, im Hochsommer, versank die Sonne sehr zeitig hinter den steilen, dicht bewaldeten Hügeln.
Ein heißer, sonniger Sommertag neigte sich allmählich seinem Ende zu. Die Einwohner des Örtchens Schulenberg verschwanden nach getaner Arbeit in ihren Holzhäusern, um ihr bescheidenes Abendessen einzunehmen. Darin waren sie berechenbar.
Heute kam diese Regelmäßigkeit einem jungen Mann sehr zupass. Für sein makabres Vorhaben benötigte er den schützenden Mantel der hereinbrechenden Dämmerung.
Die etwa dreihundert Bewohner der Harzer Waldarbeitersiedlung waren ebenso neugierig wie alle Dörfler, denen wenig Abwechslung beschert war. Man führte hier ein hartes, aber hochanständiges Leben, stets am Rand des Existenzminimums. All das musste er ins Kalkül ziehen. Keinesfalls durfte er sich durch ungewöhnliche Handlungen verdächtig machen.
Er saß auf einer kleinen Anhöhe unter einem Apfelbaum, tat so, als würde er mit seinem Taschenmesser eine Figur schnitzen. Von hier aus hatte er das gesamte Kaff im Blick. Kleine Gemüsegärten und Felder, Häuser, geflochtene Zäune und ein munter gurgelndes Flüsschen nebst kleiner Brücke, über die die staubige Dorfstraße führte – mehr gab es hier nicht zu sehen.
Im dunstigen Hintergrund spannte sich die Weißwasserbrücke übers Tal. Sie war vor dem zweiten Weltkrieg fertiggestellt worden, noch bevor sämtliche Bauarbeiten am Staudamm für Jahre zum Erliegen gekommen waren. Dieses hochmoderne, kolossale Mega-Bauwerk fügte sich schlecht ins idyllische Landschaftsbild ein. Hiergegen wirkten die Häuschen von Schulenberg wie Spielzeuge von einer Modelleisenbahnanlage.
Er konnte einerseits die Aufregung der direkten Anwohner verstehen, die sich rund um dieses und weitere, derzeit noch in Planung befindliche Bauwerke entsponnen hatte; andererseits wollte er sich jedoch die Folgen des umstrittenen Großprojekts höchstpersönlich zunutze machen.
Das Dörfchen Unter-Schulenberg würde nicht mehr lange existieren, es musste in Kürze einem riesigen Stausee weichen. Dieser würde das Gesicht der Gegend zweifellos bis zur Unkenntlichkeit verändern und einige Täler unter sich begraben.
Seit anno 1912 die ersten Landvermesser angerückt waren und ein Verbot für die Errichtung neuer Häuser ausgesprochen hatten, harrten die meisten Einwohner in stoischem Trotz aus. Sie wussten zwar genau, dass ihre Tage in Schulenberg gezählt waren und auch, dass bereits neue Häuser auf dem Kleinen Wiesenberg auf sie warteten. Der Ort lag westlich von hier. Aber es fiel manchen Leuten einfach unglaublich schwer, ihre angestammte Heimat zu verlassen. Sie wollten bis zum letzten Tag bleiben.
Das wusste er von seinem Vater, der beim Abendbrot über solche Dinge referierte. Sofern er ausnahmsweise nicht mit ihm oder, bei seiner Mutter, über ihn schimpfte, wohlgemerkt.
Der mittlerweile Neunzehnjährige trieb sich seit seiner Kindheit häufig hier herum, hatte gewissermaßen selbst eine Bindung zu diesem, dem sicheren Untergang geweihten Dorf. Er kannte die meisten Schulenberger namentlich. Es hatte früher eine wilde Horde Jungs gegeben, welche nach der Schule mit ihm, dem auswärtigen Lückenbüßer, Fußball gespielt hatten. Sie hatten ihn nur ›den Langen‹ genannt. Wirklich dazugehört hatte er nie.
Von denen lebten nur noch wenige