Okertal-Atlantis. Marie Kastner
er hatte hier eine Menge Spaß gehabt. Doch sein eindrucksvollstes Erlebnis in Schulenberg hatte dazu geführt, dass er heute ein letztes Mal herkommen und sein begonnenes Werk vollenden musste. Zusammen mit der Ortschaft würden in wenigen Tagen auch diese Spuren verschwinden. Gott sei Dank.
Immer wieder geriet ein bestimmtes Haus in der Ortsmitte in seinen Fokus. Ungefähr vier Tage noch, dann würden die Bagger anrücken und die Häuser und Ställe im Tal einfach abreißen, dazu im Laufe der nächsten Zeit so um die dreißigtausend Kubikmeter Wald abholzen. Kaum vorstellbar, dass dort, wo er jetzt gerade im hohen Gras saß, bald nur noch trübes Seewasser sein sollte. Eines Tages würden Forellen die Ruinen bevölkern.
Zum Glück war wenigstens seine eigene Familie nicht von der geplanten Flutung betroffen. Sie wohnte schon seit jeher im höhergelegenen Ortsteil Mittel-Schulenberg.
Endlich, nun schloss sich die quietschende Haustür auch hinter den drei Lohmüllers, die zum letzten Male ihre Johannisbeerensträucher abgeerntet hatten. Licht flammte in der Wohnstube auf. Die Luft war jetzt rein, das Dorf lag friedlich im Zwielicht. Man war hinter diesen Mauern vermutlich sentimental mit dem Verpacken der letzten Habseligkeiten beschäftigt.
Der junge Mann bewegte sich ungefähr fünfzehn Meter seitwärts, zog den mitgebrachten Spaten sowie ein Seil hinter einem streng riechenden Gebüsch hervor und hob am Hang, mit ausreichendem Abstand zu einer Gruppe halbhoher Fichten, eine tiefe und etwa zwei Meter lange Grube aus. Dann suchte er sich einen schweren Stein, schleppte ihn im Schweiße seines Angesichts an den Rand des Aushubs und knotete fest das Seil herum.
Er war fast am Ziel.
*
27. November 2018, Wernigerode
Kripobeamtin Marit Schmidbauer litt seit Tagen unter schlechter Laune. Im Augenblick fand sie aber auch alles zum Kotzen. Ihr angebeteter Chef weilte mit seiner Gattin in der Stadt der Liebe, und sie durfte hier im Büro die Stellung halten. Besonders ärgerlich, dass sie hieran auch noch selber schuld war, wieder mal die Fürsorgliche hatte spielen müssen. Sie hatte Bernd höchstpersönlich zu dieser Liebesreise geraten.
Flug erster Klasse, 4-Sterne-Hotel nahe Eiffelturm, ein Dinner für Zwei in einem schicken Edelrestaurant – wenn Julia darauf nicht anspringt, ist sie keine echte Frau, hatte sie ihm augenzwinkernd erklärt. Er hatte auf sie gehört, war nach dem Dienst ins Reisebüro gerannt und hatte die Buchungsbestätigung an eine langstielige rote Rose gebunden, diese seiner Angetrauten feierlich überreicht.
Lediglich in einem Punkt war er von Marits gut gemeinten Vorschlägen abgewichen. Er hatte leider keinen Wochenendtrip, sondern gleich zehn Übernachtungen in Paris gebucht. Seit zwei Tagen war er nun weg und sie vermisste ihn jetzt schon schmerzlich.
Scheiße!
Wütend auf sich selbst, holte Marit aus und feuerte einen Radiergummi in die Ecke. Der Gedanke, dass Bernd sich auf dieser Reise aufs Neue in seine chronisch unzufriedene Ehefrau verlieben könnte, machte sie total verrückt. Ja, sie war eifersüchtig und nochmals ja, er hatte sich vor zweieinhalb Jahren gegen sie und für Julia entschieden. Daran gab es partout nichts zu rütteln.
So sehr sie seitdem auch versuchte, sich mit dieser Gegebenheit endlich abzufinden und ihre romantischen Gefühle einzustampfen, es wollte ihr nach wie vor kaum gelingen. Ohne den männlichen Lichtblick Bernd wirkte dieses Büro düster, geradezu feindselig. Daran konnte nicht einmal ein Windlicht aus satiniertem Glas etwas ändern, das sie sich vorhin in der Mittagpause aus purem Frust zugelegt hatte. Die Kerze in zartem Türkis verströmte einen süßlichen Duft nach tropischen Blüten.
Sie zündete den Docht an, beobachtete, wie das Flämmchen immer höher zuckte und wie sich eine kleine Wachspfütze drum herum bildete. Eine passende Metapher fiel ihr ein. Wahrscheinlich war ihre unerfüllte Liebe mit dieser Flamme zu vergleichen. Solange sie Nahrung fand, würde das heimlich genährte Feuer der Leidenschaft wohl nie ganz verlöschen.
Ob sie sich besser in eine andere Dienststelle versetzen lassen sollte, weit entfernt von Wernigerode? Aber dies war ihre Heimat, sie war im Harz aufgewachsen und spürte eine starke Bindung. Außerdem lebten ihre Eltern hier und sie war deren einzige Tochter. Es hätte sich unfair angefühlt, sie ausgerechnet im Alter im Stich zu lassen, bloß weil sie unglücklich verliebt war.
Vielleicht bin ich einfach nur urlaubsreif, letztes Jahr habe ich höchstens einzelne freie Tage ergattern können. Es ist ja ziemlich viel auf mich eingestürmt, Zeit zum Durchatmen blieb mir kaum.
Im Frühjahr war Jablonski weg, den ich wochenlang vertreten musste, dann brannten die Wälder, anschließend flog Bernd nach Spanien und es tauchte der tote Ahlheim auf. Wahnsinn.
Und jetzt diese Paris-Reise von Bernd … wirklich, ich muss hier raus, jetzt bin ich mal dran. Am besten über Weihnachten und Silvester, dann erspare ich mir das alljährliche Familiendrama unterm Baum. Papa würde wieder mit hängendem Kopf dasitzen, seine Depression pflegen, und Mama wegen dieser melancholischen Stimmung gleich mit verrückt machen. Weil sie sich einbildet, sie müsse mir daheim mit aller Gewalt einen schönen, fröhlichen Weihnachtsabend bieten. Nee, danke.
Natürlich verstehe ich die beiden. Wenn jemand nach einem Schlaganfall nicht mehr sprechen kann und der Ehepartner deshalb auch keine Ansprache hat, passiert sowas eben. Manchmal denke ich, Mama vereinsamt an seiner Seite und ist mit der Pflege rund um die Uhr auf Dauer überfordert. Aber wirklich helfen kann ich eben leider auch nicht. Dafür sind sie beide zu stur, sinnierte die junge Beamtin niedergeschlagen.
Sie nahm seufzend ihren Blick von der Kerze, kramte in der obersten Schublade ihres Schreibtischs und förderte ein ramponiertes Smartphone zutage. Seit es ihr ein paarmal runtergefallen war, verzichtete sie lieber ganz darauf, es in Jacken- oder Hosentaschen herumzutragen.
Eine frisch eingegangene WhatsApp-Nachricht sprang ihr ins Auge. Von Bernd. Er hatte ihr ein Foto von sich und Julia vor dem Eiffelturm gepostet, welches sie umgehend löschte. Schönen Dank auch, jetzt ging es ihr erst richtig mies. Sie hätte lächelnd neben ihm stehen sollen, nicht diese Frau.
Was Julia anging, fielen ihre Gefühle ambivalent aus. Eigentlich mochte sie ja diese burschikose, unkomplizierte Filialleiterin eines Baumarkts, die selten ein Blatt vor den Mund nahm. Wäre diese Sache mit ihrem Traummann nicht gewesen …
Marit schüttelte den Gedanken ab, öffnete das Fenster, um die abgestandene Büroluft hinauszulassen und richtig durchzuatmen. Draußen herrschte das typische nasskalte Novemberwetter. Ein Grund mehr, von einem Urlaub unter Palmen zu träumen … oder in Bernds Armen, letzteres ihretwegen auch am Nordpol.
Sie googelte auf ihrem Telefon nach günstigen Pauschalreisen, brauchte Tapetenwechsel, und zwar sofort. Wollte irgendwohin, wo sie keinen Schnee sehen musste und man ohne Jacke vor die Türe gehen, sich eventuell sogar entspannt an einen Swimming-Pool legen konnte.
Die Webseite eines aggressiv werbenden Vergleichsportals sah schon mal vielversprechend aus, bot Hammerpreise für Ziele in der Türkei, Griechenland und Ägypten. Übernachtungen in Vier-Sterne-Hotels und Vollpension waren inklusive.
Genau sowas hatte sie sich vorgestellt.
»Na, du wirst mir doch nicht zur All-Inclusive-Touristin werden? Nichts kriegt die heimischen Restaurants an den schönsten Stränden dieser Welt schneller insolvent als Pauschalreisen. Bars, Restaurants, Cafés – kein Einheimischer macht mehr ausreichend Geschäft, wenn die Urlauber alle faul in ihren Hotelanlagen bleiben, sich dort drinnen rundum verwöhnen lassen«, kritisierte eine Stimme hinter ihrer linken Schulter. Sie gehörte zu ihrem Kollegen Steffen Beckert, der aus dem Nichts aufgetaucht war.
»Ich weiß, du Schlaumeier, aber was sollte ich sonst machen? Mein Kontostand reicht leider nicht für eine individuell geplante Weltreise. Ist ein wenig anders als bei dir, du Börsenspekulant«, gab sie schlagfertig zurück.
Beide lachten und Steffen setzte sich ihr gegenüber. Sie übertrieb nicht, er hatte sich in der letzten Zeit tatsächlich ein schönes Sümmchen