Okertal-Atlantis. Marie Kastner
wirkte unschlüssig. Er ruderte ungern zurück.
»Okay, gut … aber bitte mit Schuhüberzügen – und nichts ohne Handschuhe anfassen.« Er zog beides aus der Jackentasche.
»Das versteht sich von selbst«, sagten seine Begleiter wie aus einem Munde. Ihr neuer Chef versuchte ganz offensichtlich, sie zu tölpelhaften Anfängern zu degradieren. Darüber würde man später Tacheles mit ihm reden müssen. Aber nicht jetzt gleich. Sie hatten schließlich einen Frauenmord aufzuklären.
Also zogen Beckert und seine Begleiterin die übliche Prozedur durch, zum Glück unbeanstandet vom Chef. Der stellte nur hin und wieder Fragen, besonders an den Rechtsmediziner. Die Spurensicherung war inzwischen ebenfalls eingetroffen. Sie überließen diesem Kollegenteam den Tatort, zogen sich zurück.
Näheres würde man über die jeweiligen Berichte erfahren.
Weil Wolters mit im Einsatzfahrzeug saß, konnte Marit Schmidbauer auf dem Rückweg keinen Abstecher nach Elend einlegen, was sie und Steffen sonst zweifellos getan hätten. Sie hatte Bernd vor seiner Abreise nach Paris in die Hand versprochen, zweimal täglich bei Kater Felix vorbeizuschauen, ihn gut zu füttern und wenigstens immer kurz zu streicheln, damit die rotgetigerte Fellnase nicht zu sehr trauerte. Der dicke Kater kannte und mochte sie, wäre in ihrer winzigen Stadtwohnung aber nicht halb so gut aufgehoben gewesen.
Kein Zweifel, es war so herum besser.
Nach dem Dienst fuhr Marit kurz nach Hause, aß einen Bissen und duschte. Dann machte sie sich auf den Weg zu Bernds renoviertem Bauernhaus, das im vergangenen Sommer beinahe einem verheerenden Waldbrand zum Opfer gefallen wäre.
Ihr liefen immer noch eiskalte Schauder den Rücken herunter, wenn sie an dieses absichtlich gelegte Großfeuer dachte. Seither fuhr sie sehr ungern durch größere Waldgebiete. Mutige Polizistin hin oder her, auch sie kannte diffuse Ängste.
Marit bog auf den Hof ein und die Außenbeleuchtung flammte auf. Felix wartete schon am Fenster, rannte hektisch in Richtung Haustür, als sie aufsperrte. Er machte vor Freude einen veritablen Katzenbuckel, rieb sich an ihren Unterschenkeln und hinterließ auf ihrer schwarzen Jeanshose einen breiten Streifen roter Haare. Nachher würde wieder die Fusselrolle zu Ehren kommen.
Während der Kater sich schmatzend seine Wampe vollschlug, setzte sie sich auf einen Küchenstuhl, kramte ihr Handy aus der Handtasche und drehte ein kurzes Video. Das schickte sie über WhatsApp an Bernd.
Wo mag er gerade sein, was wird er machen? Vielleicht sitzt er mit ihr in einem schicken Restaurant … lieber nicht drüber nachdenken, Marit. Das zieht dich nur noch weiter runter.
Kaum hatte der Stubentiger seine Mahlzeit beendet und leckte sich genüsslich die Reste vom Schnäuzchen, nahm sie ihn auf den linken Arm, drückte ihn liebevoll an ihre Brust und versuchte mit der freien Hand, ein Foto von sich und dem Kater zu schießen. Was gar nicht so einfach war, denn dieser verfressene Kerl wog über sechs Kilo und hielt nicht still. Es brauchte mehrere Anläufe, bis sie auch dieses Bild nach Frankreich absenden konnte.
Vielleicht ist es unfair von mir, mich auf diese Weise in Erinnerung zu bringen. Kann sein, dass Julia sich darüber aufregt und ihm die Hölle heiß macht. Ach ja, was soll’s. Wenn ich sowas bleiben lassen soll, muss er es mir halt schreiben. Bislang kamen jedenfalls nur Smileys und lächelnde Katzen-Emojis zurück. Ich weiß, dass er sich über die Fotos freut.
*
01. Dezember 2018, Paris
Nach knapp einer Woche hatte Bernd Mader längst die Schnauze voll. Es fiel immer schwerer, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, nur um Julia den Spaß nicht zu verderben.
Für heute stand ein Besuch der Champs-Élysées an. Sie wollte einen Einkaufsbummel unternehmen, den Triumphbogen mit-samt Kreisverkehr anschauen und den Élysée-Palast bewundern.
Am liebsten hätte er verweigert und wäre im Wellnessbereich des Hotels zurückgeblieben. Seine Frau verfügte zwar nach wie vor über ein eigenes Bankkonto, dessen Füllstand er nicht einmal kannte, und neigte auch keineswegs zu Kaufräuschen – aber mit ihr shoppen zu gehen, nervte trotzdem gewaltig.
Nach seiner Erfahrung rannte sie in unzählige Geschäfte, sah sich Unmengen von Klamotten an und hatte an allem was auszusetzen. Einmal stimmte die Stoffqualität nicht, dann wieder das Preis-Leistungs-Verhältnis. Wenn ausnahmsweise mal alles passte und er schon vor Erleichterung aufatmen wollte, kaufte sie meistens doch nichts, verließ seufzend das Ladengeschäft. Mit der Begründung, dass sie ja eigentlich gar nichts Neues brauche. Was für eine öde Zeitverschwendung.
Verstehe einer die Frauen! In diesem Punkt sind sie wohl alle gleich.
Er wusste, weshalb er sie zu Hause nicht mehr in die Innenstadt begleitete, jedes Mal eine andere Ausrede aus dem Hut zauberte, bis sie es aufgab und mit einer Kollegin abschwirrte. Hier jedoch konnte er ihr nicht entkommen. Also ergab er sich klaglos in sein selbstverschuldetes Schicksal und ging neben ihr her, interesselos registrierend, wie sie sich behände von einem Kleiderständer zum nächsten bewegte.
Sie erinnerte ihn hierbei an eine emsige Biene, die in irrwitzigen Flugbahnen über eine duftende Blumenwiese fliegt und sich in dieser Pracht kaum entscheiden kann, wo sie zuerst landen soll.
In einer schicken Boutique namens Madame et Monsieur erstand sie eine Bluse, endlich. Er atmete auf. Während sie an der Kasse stand und bezahlte, sah er gelangweilt aus dem Schaufenster.
Sein allzeit wachsames Polizistenauge gewahrte mehrere Personengrüppchen. Die zumeist jungen Leute waren allesamt mit gelben Warnwesten uniformiert, standen palavernd auf dem Trottoir. Sie gehörten offenkundig zu jener organisierten Bürgerbewegung, welche in der französischen Hauptstadt an den vergangenen beiden Samstagen gegen die Regierung Macron protestiert hatte. Dabei war es zu teilweise heftigen Krawallen gekommen, besonders hier, an der Champs-Élysées.
Heute schien sich also Ähnliches anzubahnen.
Nach ihrer Einkaufstour wollte Julia erst einmal in die Jardins des Champs-Élysées zurück, um dort Fotos zu schießen. Bernd war damit zufrieden, Hauptsache sie schleppte ihn in keine exklusiven Klamottenläden mehr. Ihm war längst nach einem starken Kaffee zumute. Oder nach Harakiri, dachte er sarkastisch.
Sie besichtigten das vergleichsweise recht unscheinbare Palais Borghèse sowie den Amtssitz des französischen Präsidenten und bummelten am historischen Springbrunnen Fontaine de la Grille du Coq vorbei, beschlossen dann ihren kleinen Abstecher über die Avenue de Marigny.
Als sie wieder auf die sonnenbeschienene Champs-Élysées hinaustraten, um ihr weiter in Richtung des Triumphbogens zu folgen, wimmelte es dort mittlerweile vor Gelbwesten.
Parolen skandierend, pilgerten sie die breite Prachtstraße entlang. Erste Böller und Bengalos wurden gezündet.
Bernd beunruhigte der Anblick.
»Wir haben uns offenbar einen schlechten Tag ausgesucht, und bis zum Triumphbogen wäre es bestimmt noch ein viertelstündiger Fußmarsch. Diese Straße ist verdammt lang. Hier scheint gerade ein Mob zu entstehen, sowas kann schnell eskalieren. Wollen wir uns nicht lieber ein Taxi nehmen und gleich zurück ins Hotel fahren?«
»Kommt gar nicht infrage. Jetzt sind wir schon mal hier. Die Leute wollen doch nur friedlich demonstrieren. Ich glaube nicht, dass vor dem Abend irgendetwas Schlimmes passiert, schließlich sieht die Weltöffentlichkeit zu«, winkte Julia ab.
Bernd hatte keine Lust auf Diskussionen, und so gab er klein bei. Doch auf sein Käffchen würde er keinesfalls verzichten.
»Okay, meinetwegen. Aber dann schlagen wir uns für wenigstens zehn Minuten in die Nespresso-Boutique dort vorne, damit ich meinen Koffeinspiegel auf ein erträgliches Level kriege.«
Julia grinste, hakte sich bei ihm unter.
»Geht natürlich klar, du unverbesserlicher Koffein-Junkie. Es wird sowieso Zeit,