Okertal-Atlantis. Marie Kastner

Okertal-Atlantis - Marie Kastner


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Jahre jüngere Kollegin.

      »Geht mir umgekehrt genauso, aber dazu erzähle ich dir später mehr. Ein neuer Mordfall … und ich dachte, der Harz sei eine ruhige, ereignislose Ecke in Deutschland. Dabei sterben hier die Leute anscheinend wie Fliegen.«

      »In letzter Zeit haben wir in Sachsen-Anhalt tatsächlich keine sehr gute Statistik. Die Zahl der Gewaltdelikte ist in den letzten drei Jahren gestiegen, während die Wohnungseinbrüche allmählich wieder zurückgehen. Die allerletzten Stückchen ›heile Welt‹ verschwinden, nun ist das Verbrechen auch hier heimisch. Und ich kann deswegen meinen Weihnachtsurlaub knicken. Eigentlich hätte ich in die Sonne fliegen wollen.«

      »Nimm‘s leicht, Marit. Die sogenannten Urlaubsfreuden werden ohnehin überbewertet, das kann ich dir aus jüngster Erfahrung verraten«, brummte Mader ironisch.

      Ihre braunen Rehaugen versprühten Fragezeichen.

      »War es denn nicht schön in Paris?«

      »Jein, würde ich sagen. Die Stadt an sich ist ja ganz nett, aber ich war voll im Romantik-Stress. Julia war richtiggehend hyperaktiv, brachte mich mit all dem Sightseeing manchmal bis an die Grenzen meiner Geduld. Ich hasse lange Warteschlangen – und nicht nur die. Mir kann Paris gestohlen bleiben.

      Unsere jeweiligen Traumvorstellungen von einer gelungenen Urlaubsreise gingen jedenfalls weit auseinander. Erholen konnte ich mich dabei kaum. Am Ende war dann auch sie unzufrieden, meinte, ich würde ihr mit meinem Starrsinn alles vermiesen und das Verbrechen wie ein Magnet anziehen. Ich erzähle dir später, wie sie darauf kam. Wie ist das eigentlich mit dir, warst du selber schon in Paris?«

      »Nee. Und ich will da auch nie hin. Für Städtetrips habe ich wenig übrig und für Frankreich erst recht nicht. Die Sprache ist schrecklich. Ich gehe viel lieber wandern, mache Ausflüge oder möchte am Strand relaxen. Was nun ja dummerweise auch nicht passieren wird.«

      Mader legte den Kopf schief, sah sie gespielt vorwurfsvoll an.

      »Ah so. Na toll, Madame. Wieso hattest du mir dann zu dieser Reise geraten und behauptet, wenn Julia Paris nicht gefiele, wäre sie keine echte Frau? Bist du etwa keine?«

      Marit zuckte mit den Achseln, grinste schelmisch.

      »Jedenfalls kein typisches Weibchen. Ich bin Polizistin, da hat man grundsätzlich einen nüchternen Blick auf die Dinge.«

      »Auch wieder wahr. Also gut, zurück zum Boden der mörderischen Tatsachen. Was haben wir diesmal?«

      »Weibliche Leiche, Alter siebenundzwanzig, gefunden von der Nachbarin im Bett ihrer Mietwohnung. Todeszeitpunkt lag laut Gerichtsmediziner zwischen drei und vier Uhr morgens, genauer kann man es nicht bestimmen. Sie war beim Fund bis zum Hals zugedeckt gewesen. Das Bettzeug könnte also nach dem Tod ihre Körperwärme noch eine Weile gespeichert haben.

      Ihre Hände und Füße waren mit stabilen Kabelbindern gefesselt und sie ist, höchstwahrscheinlich mit einem weiteren derselben Sorte, direkt am Fundort erdrosselt worden.

      Die Todesursache steht bereits fest. Der Schlag auf den Kopf, der ihr vorher zugefügt wurde, war jedenfalls nicht tödlich.«

      »Einbruchspuren?«

      »Allerdings, die Wohnungstür ist mit einem Brecheisen aufgehebelt worden. Aber von ihren Nachbarn will keiner was mitbekommen haben. Teils arbeiten diese in Nachtschicht, waren zur Tatzeit nicht zu Hause, teils sind es ältere Leute, die womöglich schlecht hören. Wir müssen diese Leute natürlich nochmal vorladen. Zum Glück gibt es im Haus nur sechs Parteien.«

      »Ergo deutet bislang nichts auf eine Beziehungstat hin. Familienmitglieder, Freunde und Bekannte hätten dort klingeln, beziehungsweise aufsperren können, um hineinzugelangen.«

      »Richtig. Dasselbe hatte ich mir auch schon überlegt.«

      »Ist sie vergewaltigt, ausgeraubt oder misshandelt worden?«

      »Nichts von alledem. Es gibt keine Hautpartikel des Täters unter den Fingernägeln. Fremde Fingerabdrücke haben die Kollegen erstaunlicherweise auch nicht sichern können, lediglich ihre eigenen und die der Nachbarin. Offenbar hatte sie momentan keinen Freund. Im Bad stand lediglich eine einzelne Zahnbürste.

      Der Täter oder die Täterin muss sie im Schlaf oder Halbschlaf überrascht haben; wobei die brachiale Kraft, mit der ihr die Kehle zugeschnürt wurde, eher auf einen Mann hindeutet, meint der Rainer Müller. Der Kabelbinder hat sich tief ins Fleisch gegraben.

      Was das mutmaßliche Motiv für diesen brutalen Mord angeht, tappen wir noch vollkommen im Dunklen. Es existiert weder eine Lebensversicherung, die einen Begünstigten zur Tat verleitet haben könnte, noch wurde ihr Schmuck, Kreditkarten oder Bargeld entwendet. Davon gab es einiges in der Wohnung. Einen Raubmord kann man somit ausschließen.

      Feinde soll sie keine gehabt haben. Diese Anne Gräbner wird durchwegs als nette, hilfsbereite junge Frau beschrieben, die jeder gut leiden mochte. Fragt sich bloß, wieso sie dann überhaupt umgebracht wurde. Vielleicht handelt es sich nur um ein Zufallsopfer und der Täter wurde gestört, ehe er seine eigentliche Absicht durchziehen konnte. Es gibt keine Hinweise darauf, was er in der Wohnung gewollt haben könnte.«

      »Mist! Und was hatte die Nachbarin dort verloren?«

      »Sie wollte Anne angeblich ein Postpaket vorbeibringen, das sie am Nachmittag vor dem Mord an ihrer Statt angenommen hatte. Um diese Uhrzeit war Anne noch auf ihrer Arbeitsstelle im Behindertenheim gewesen. Sie ist … äh, war dort als Ergotherapeutin angestellt.

      Später hatte die Nachbarin selbst das Haus verlassen. Sie arbeitet bei einer Putzkolonne. Deshalb war sie erst am nächsten Tag hinübergegangen, um ihr das Paket zu bringen. Sie sah, dass die Wohnungstür einen Spalt offenstand, ging rufend hinein – und fand zu ihrem Entsetzen kurz darauf die Tote. Angela Pfeiffer hat sofort einen Notruf abgesetzt.«

      »Der Täter hatte nicht mal die Tür hinter sich geschlossen? Also wollte er vermutlich erreichen, dass sein Opfer schnell gefunden wird«, sinnierte Mader.

      »Oder es war ihm schlichtweg egal«, ergänzte Marit.

      »Auch möglich. Schön, dann bring mir bitte die Akte – und ein schönes Käffchen. Ich werde mich grob vorinformieren und mir anschließend selbst ein Bild am Tatort machen.

      Um zwei treffen wir uns im Besprechungsraum. Sag nachher allen Kollegen Bescheid, ebenso dem Wolters. Wir haben wieder mal die Ehre, unsere bewährte Soko wiederaufleben zu lassen«, verfügte der Hauptkommissar.

      Marit rührte sich nicht von der Stelle, wirkte verlegen.

      »Ähm … wie soll ich dir das am besten beibiegen … letzteres wird eher nicht passieren. Der Wolters hat sich bereits entsprechend geäußert. Er hält nichts davon, Ressourcen an einen einzigen Fall zu binden. Am besten sprichst du zuerst selbst mit ihm, bevor du den Vorschlag in versammelter Runde bringst.«

      Auf Maders Stirn bildete sich eine markante Falte.

      »Dann fängt der also auch schon mit Allüren an? Die müssen wir ihm schleunigst abgewöhnen, ansonsten haben wir bald einen zweiten Remmler im Büro hocken. Ich werde daher lieber nicht vorab mit ihm sprechen, dazu hätte ich auch keinerlei Veranlassung. Vielleicht wird die Besprechung nachher tatsächlich richtig peinlich, aber es fragt sich im Zweifelsfall, für wen. Danke jedenfalls für die Vorwarnung.«

      »Okay, Bernd … du bist unser Boss und wirst bestimmt am besten wissen, wie man damit umgeht. Die Mordkommission ist Wolters‘ absolutes Steckenpferd, die polizeiliche Königsdisziplin, wie er es neulich nannte. Ich dachte es wäre besser, du wüsstest das, bevor du dich bei ihm in die Nesseln setzt.«

      »Das ist mir bewusst, bitte verstehe mich nicht falsch. Aber es ist doch wahr, oder? Die Vernunft muss bei derartigen Meinungsverschiedenheiten siegen. Da kann es kaum schaden, wenn weitere Leute anwesend sind, die ihren Senf dazugeben. Er wird sich an uns anpassen müssen, nicht etwa umgekehrt. Schließlich können wir mit unserer Methode Erfolge vorweisen. Wir haben mithilfe einer Soko sowohl den Brockopathen als auch diesen mordlustigen Krimischreiberling


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