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fürchte ja. Wir müssen uns unbedingt was einfallen lassen. Keine Soko … der hat doch ein Rad ab. Es gibt noch mehr Beamte in dieser Dienststelle, die er mit den ach so dringenden anderen Aufgaben betrauen könnte.
Da will zweifellos jemand das Rad neu erfinden, bloß um sich auf unsere Kosten mit einem individuellen Führungsstil profilieren zu können. So sieht das jedenfalls für mich aus. Vermutlich sind ihm die Vorschusslorbeeren anlässlich seines Dienstantritts zu Kopf gestiegen. In der Zeitung war die Rede von einem jungen, dynamischen Kriminalisten-Talent. Reine Schikane, was er da abzieht«, grummelte Mader angefressen.
Nun erhob sich auch er, löste den Rest der Versammlung auf. Das Gehörte wollte jetzt in der Abgeschiedenheit seines Büros erst einmal verarbeitet werden.
Nach dieser Besprechung setzte sich Thomas Wolters in seinen Chefsessel, starrte für ganze fünf Minuten die Wände an. Er war mit sich selbst uneins, ob sein Vorgehen tatsächlich das richtige gewesen war. Er hatte sich bei den Leuten der Mordkommission soeben keine Freunde gemacht, das war ihm voll bewusst.
Nie hätte er sich bei Übernahme des Postens träumen lassen, welch negative Begleiterscheinungen so eine Revierleiterstelle mit sich brachte.
Zumindest in diesem Punkt hatte sein Amtsvorgänger durchaus Recht behalten. Die Hauptverantwortung für die Sicherheit der Menschen aus dieser Stadt übernehmen zu müssen, drückte stärker als angenommen. Er schlief neuerdings sehr schlecht. Aber ob Remmlers ›wohlmeinende‹ Insider-Tipps zur Personalführung tatsächlich das Gelbe vom Ei waren, blieb noch dahingestellt. Sie schienen ihm ein wenig zu radikal zu sein.
Sie müssen sich in einigen wichtigen Punkten gegen den Willen Ihrer Leute durchsetzen, sich deutlich von allen Kolleginnen und Kollegen abheben und unpopuläre Entscheidungen treffen, auch wenn es schwerfällt. Vermeiden Sie das Duzen. Und vor allem: Seien Sie kein Wendehals, bleiben Sie bei Ihren ursprünglichen Ansichten, solange es irgendwie möglich ist. Sonst spielen die Mitarbeiter Katz und Maus mit Ihnen, versuchen wie Kinder, ihre Grenzen über Diskussionen und offenen Ungehorsam auszutesten.
Polizisten sind naturgemäß fast alle Alphamännchen und -weibchen, das bringt der Job mit sich. Schließlich ist da Durchsetzungsvermögen gefragt. Es würde niemand lange zögern, wenn es darum ginge, Ihnen das Zepter aus der Hand zu reißen. Und wenn das Kind in puncto Respekt erst einmal in den Brunnen gefallen wäre, dann hätten Sie zukünftig einen sehr schweren Stand bei denen. Führen und fordern lautet das Geheimrezept, hallten Remmlers Ermahnungen in seinen Ohren nach.
Und das waren während seiner mehrwöchigen Einarbeitungszeit beileibe nicht die einzigen dieser Art geblieben.
Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass die Weisheiten auf Mader und Konsorten höchstens bedingt zutrafen. Doch wenn er sich nicht blamieren wollte, musste er dem steinigen Pfad zunächst folgen, den er überstürzt eingeschlagen hatte. Er nahm sich vor, künftig wenigstens ein klein wenig netter zu sein.
Das konnte schließlich nie schaden.
*
Zur selben Zeit in Hauptkommissar Maders Büro …
Viel Zeit zum Grübeln blieb dem Hauptkommissar indes nicht. Fred Jablonski klopfte am Türrahmen, wollte ohne ausdrückliche Einladung hereinhuschen.
»Bitte nicht jetzt, Freddie. Wir reden später drüber. Ich müsste das Ganze erst sacken lassen und mir was überlegen, okay?«
»Ähm … ich will gar keine Nachlese zur Besprechung betreiben. Ich habe vielmehr brisante Infos zu unserem neuen Fall, die womöglich das Tatmotiv ans Licht bringen könnten. Die interessieren dich doch?«
Mader sah skeptisch vom Schreibtisch hoch.
»Wie denn das so schnell? Setz dich hin, ich bin gespannt wie ein Flitzebogen. Auch einen Kaffee?«
»Nee danke. Ich bin schon nervös genug. Jetzt im Nachhinein könnte ich mich ohrfeigen, weil ich nicht reagiert habe. Andernfalls könnte die Frau Gräbner womöglich noch leben. Ich wollte die verrückte Geschichte, die du dir gleich anhören wirst, vorhin lieber nicht vor versammelter Mannschaft auspacken. Der Wolters hätte mir sonst vielleicht einen Strick draus gedreht.«
Der hagere Deutschpole wirkte überaus angespannt, als er zu berichten begann. Dem Kollegen war deutlich anzumerken, dass ihn schwerste Schuldgefühle quälten. Offenbar trug er sie seit Tagen in sich, hatte bislang noch niemandem davon erzählt.
»Es müsste in der letzten Dienstwoche von Remmler gewesen sein, kurz vor dessen Ausstandfeier. Da kam der Kollege Kögel bei mir vorbei, hatte eine junge Dame im Schlepptau. Die wollte er mir mitsamt ihrer Story aufs Auge drücken. Sie hieß – und genau das ist mein Punkt – Anne Gräbner.«
Maders Augen weiteten sich.
»Und was wollte sie? War sie bedroht worden?«
»Keineswegs, sonst wäre ich auf diese Sache selbstverständlich angesprungen. Sie hielt ein altes, staubiges Tagebuch mit Textilüberzug fest umklammert. Es hatte angeblich ihrer Oma gehört, welche drei Monate zuvor verstorben war. Anne hatte ihr Haus geerbt und diese persönlichen Aufzeichnungen beim Entrümpeln in einer der Holztruhen gefunden. Und wie es halt so ist, interessierte sie sich brennend für das Tagebuch, nahm es als Bettlektüre mit nach Hause. Omas alte Familiengeheimnisse … hätte wohl jeder von uns so gemacht.«
»Garantiert«, nickte Mader. Er hatte selbst ausgiebig auf dem Dachboden des Bauernhauses in Elend gestöbert, nachdem er es von seiner Großmutter geerbt hatte. Gefunden hatte er hierbei allerdings nur kaputte Möbel und einen Stapel vergilbter Fotos aus der DDR-Zeit.
»Anne war außerordentlich an der Familiengeschichte interessiert, auch weil sie beide Eltern früh verloren hatte. Doch schon nach einigen Seiten musste sie feststellen, dass ihr der Inhalt des Büchleins den Schlaf raubte. Bei ihren Vorfahren war längst nicht alles eitel Sonnenschein gewesen. Sie hat mir ein paar der krassesten Passagen daraus vorgelesen.
Eines kann ich dir sagen. Wer da allen Ernstes glaubt, in den Fünfzigern sei die Welt hier auf dem Land noch einigermaßen in Ordnung gewesen, der irrt. Die Zwillingsschwester ihrer Großmutter hatte sich einiges Schlimme von der Seele geschrieben.
Ursula Gräbner beschrieb detailliert, wie sie ständig beobachtet und angetascht worden war. Der Typ, den sie nur als ›Er‹ bezeichnete, hatte sie regelrecht bedrängt, ihr auch damit gedroht, dass alle Leute im Ort erfahren würden, was für eine liederliche Person sie sei, wenn sie ihn weiterhin nicht ranlasse. In den prüden Fünfzigern wäre das wohl einer Katastrophe gleichgekommen.
Der Kerl, den man heute als Stalker bezeichnen würde, wurde derart zudringlich, dass sie nach Jahren der Verfolgung sogar über Selbstmord nachdachte. Das alles hat sie einzig und allein ihrer Schwester anvertraut. Und dem allwissenden Tagebuch natürlich.
Ich habe auf die Schnelle natürlich nicht alles durchlesen können, aber Anne ist felsenfest davon ausgegangen, dass dieser obskure Typ die Schwester ihrer Großmutter eines furchtbaren Tages sogar vergewaltigt hat.
Und jetzt halt dich fest, Bernd: Ursula war eines Tages spurlos verschwunden. Die enttäuschten Eltern gingen davon aus, dass sie mit einem Mann ins Ausland durchgebrannt ist. Zur selben Zeit hielt sich nämlich ein attraktiver italienischer Taschenspieler im Dorf auf, der sämtlichen Mädchen die Köpfe verdrehte. Und der verschwand am selben Tag, Hals über Kopf.
Diese Passagen hat wohl Violetta später hinzugefügt, man erkannte das an der abweichenden Handschrift. Sie führte Ursulas Tagebuch quasi fort. Aber zurück zu ihrem Verschwinden, welches zeitlich mit dem Abgang des Taugenichtses zusammenfiel.
Zufall oder nicht?
Violetta, die ihre Zwillingsschwester extrem gut kannte, hat niemals glauben können, dass sie sie, ihre engste Vertraute, ohne jeglichen Abschied verlassen hätte können. Die beiden waren recht dick miteinander, so wie die meisten eineiigen Zwillingsschwestern. Annes Oma verdächtigte von Anfang an diesen Unbekannten aus dem Tagebuch, glaubte, dass er ihr was Furchtbares angetan