Okertal-Atlantis. Marie Kastner
also Bernd, halbwegs glücklich, kurz darauf an seiner Espresso-Tasse nippte, verdichtete sich draußen die Menschenmasse weiter. Der Krach wurde schier ohrenbetäubend.
Schon röhrte ein gepanzertes Wasserwerfer-Fahrzeug vorbei und schwarz uniformierte Polizisten mit Schutzschilden rückten an. Er stürzte den Rest des Heißgetränks auf Ex hinunter.
»Komm, es wird allmählich Zeit. Schieß deine Fotos und dann nichts wie weg hier!«, kommandierte er ungeduldig.
Im Dauerlauf legte das Ehepaar Mader die letzten zweihundert Meter bis zum steinernen Siegesmonument zurück. Eine Horde Polizisten war gerade dabei, das edle Bauwerk mit Absperrgittern notdürftig vor dem heranstürmenden Vandalenheer zu schützen. Graffiti waren unerwünscht, gingen schwer zu entfernen.
Es gelang Julia gerade noch so, ihre heißbegehrten Handyfotos zu bekommen, bevor auch sie ausgesperrt wurde. Bernd trat derweil nervös von einem Fuß auf den anderen. Sein ungutes Gefühl in der Magengrube verstärkte sich sekündlich.
Und dann brach der helle Wahnsinn los. Ehe die Maders sich versahen, wurden sie von der skandierenden Menge mitgerissen. Man hatte offenbar zum Sturm auf den Triumphbogen geblasen. Julia, die fast gestürzt war, verlor zeitweise ihren Gatten aus den Augen. Plötzlich waberten Rauchwolken über den Platz. In einer der Zufahrtsstraßen brannten Barrikaden lichterloh. Sie beobachtete irritiert, wie eine Gruppe junger Kerle Pflastersteine aus dem Trottoir pulte, um sie in Richtung Polizei zu schmeißen.
Sie geriet auf einmal in blinde Panik, bekam Platzangst. Wieder war Bernd aus ihrem Blickfeld verschwunden, ausgerechnet jetzt. Wie aus dem Nichts traf sie zudem ein harter Wasserstrahl, was sie erneut straucheln ließ. Verzweifelt versuchte sie, sich auf die andere Seite des Platzes durchzuschlagen. Ihre Augen brannten wie Feuer und tränten. Vermutlich hatte irgendwer mit Pfefferspray hantiert.
Auf einmal stand sie unvermittelt frei, war nur noch unbeteiligte Beobachterin. Hier, am Rande des Geschehens, konnte sie erstmal durchatmen, die Augen mit einem Taschentuch abtupfen und blinzelnd Ausschau nach Bernd halten. Hoffentlich hatte ihn diese Stampede aus Anarchisten nicht totgetrampelt. Der Tränenfilm auf ihrer Netzhaut verhinderte eine klare Sicht. Alles lag wie im dichten Nebel vor ihr, sie erkannte keine Gesichter.
Julia hatte mit diffusen Angstzuständen zu kämpfen.
»Da bist du ja! Mensch, ich hatte mir schon Sorgen gemacht«, rief Bernd und marschierte im Stechschritt auf sie zu. Er hielt die Plastiktüte mit der Bluse in der Hand, die sie sich vorhin erst gekauft hatte. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass sie sie im Getümmel hatte fallen lassen.
Julias Augen waren rot gerändert und tränten wie verrückt. Sie fühlte sich noch außerstande, ihm zu antworten.
»Lass mal sehen … oh, da hat wohl das Tränengas zugeschlagen. Dass du aber auch überall vorne dabei sein musst. Komm, wir gehen erstmal aus der Schusslinie und holen Mineralwasser, damit wir das ausspülen können. Und danach ab ins Hotel, für heute reicht es mir«, schlug Bernd vor. Er griff nach ihrer Hand.
»Okay«, erwiderte Julia kleinlaut und ließ sich bereitwillig von ihm wegzerren. Er wiederum achtete sorgsam darauf, sämtliche Brennpunkte weiträumig zu umgehen, lief mit ihr Zickzack, bis sie in einer Seitenstraße ein kleines Straßencafé erreichten.
Das Auswaschen der entzündeten Augen half nicht allzu viel, also suchten sie noch eine Apotheke auf und besorgten ihr beruhigende Spezialtropfen. Allmählich wurde es besser. Immer noch wirkte Julia jedoch ängstlich, fast wie ein verschrecktes Reh. So verletzlich kannte er seine selbstbewusste Frau überhaupt nicht. Die turbulenten Ereignisse der letzten Zeit hatten ihr robustes Nervenkostüm anscheinend stärker angegriffen als ihm bewusst gewesen war.
»Es ist vorüber, du musst dich nicht mehr aufregen. Du warst nur mitten in den miesesten Pulk geraten. Sowas kann im Unterbewusstsein Urängste erzeugen, und davon können wir Polizisten auch ein Lied singen. Die Enge, Rauch, Feuer, lautes Geschrei … das unüberschaubare Szenario erinnert einen in solchen Situationen an eine Art Kriegszustand – und das Unterbewusstsein reagiert entsprechend darauf.
Aber guck doch mal hin, Julia. Deine Einschätzung vorhin war durchaus richtig. Die meisten Leute wollen tatsächlich nur friedlich demonstrieren, von ein paar gewaltbereiten Hitzköpfen abgesehen«, wollte er sie besänftigen.
Sie verschränkte missmutig die Arme vor der Brust.
»Mir scheißegal, was die machen und wie sie das rechtfertigen. Ich will nur noch hier weg, und das so schnell wie möglich.«
»Okay … also los!«
Einige Querstraßen von der Avenue entfernt erwischten sie endlich ein freies Taxi. Sie hielten es an und ließen sich keuchend in den Fond sinken.
»Ich hätte nie gedacht, dass es in dieser angeblich kultivierten Weltstadt solche asozialen, ja kriminellen Elemente gibt. Was für eine unzivilisierte Horde von Barbaren. Dieses brutale Gerangel hatte mit einer Demonstration beim besten Willen nichts zu tun, mit demokratischer Meinungsäußerung schon gar nicht. Das waren einfach nur verkappte Hooligans«, schimpfte Julia, nachdem sie wieder halbwegs zu Atem gelangt war.
Bernd zog indigniert die linke Augenbraue hoch.
»Siehst du, nun bist du auch in der Realität angekommen. Von wegen ›Stadt der Liebe‹ … es gibt hier etliche Orte, an die man gar nicht erst gehen sollte, erst recht nicht nachts.
Der Park Bois de Boulogne verwandelt sich dann beispielsweise in einen einzigen illegalen Puff. Oder nimm zum Beispiel das berüchtigte Département Saint-Denis, durch das wir auf dem Weg vom Flughafen zur Innenstadt gefahren sind. Dieses heruntergekommene Viertel hat die höchste Kriminalitätsrate der Stadt.
Es gibt etliche U-Bahnstationen, die selbst tagsüber brandgefährlich sind – sowie natürlich das für alle Nicht-Muslime kaum zugängliche Einwandererquartier La Goutte d’Or, eine der übelsten No-go-Areas von Paris, wo rund um die Uhr sogar Soldaten mit Maschinengewehren im Anschlag bereitstehen. Die Zustände dort werden von den Politikern gerne totgeschwiegen.
In all diesen ›Banlieues‹ bekommen selbst die Polizisten Angst, wagen sich kaum hinein. Es gibt in der Stadt also nicht nur Licht, sondern auch sehr viele Schattenseiten und Subkulturen.
Die Gelbwestenproteste sind vergleichsweise harmlos, solange man nicht mittendrin landet. Aber du musstest ja unbedingt den verdammten Triumphbogen von allen Seiten anschauen, anstatt dort rechtzeitig zu verschwinden, wie ich es zu unserer Sicherheit angeregt hatte.«
In Julias grünen Augen stand blankes Unverständnis zu lesen. Sie sah ihren Gatten vorwurfsvoll, wenn nicht sogar ein bisschen zornig, von der Seite an.
»So, du hattest all das vorher schon gewusst. Und warum hast du diese Reise trotzdem für uns gebucht? In jedem Urlaub passiert einem was anderes, wenn man mit dir unterwegs ist.«
Bernd erwiderte vorsichtshalber nichts, war aber heilfroh, dass der Spuk in wenigen Tagen vorüber sein würde. Jetzt freute er sich geradezu auf die Rückkehr in sein Polizeirevier.
*
05. Dezember 2018, Revierkommissariat Wernigerode
Mit gemischten Gefühlen betrat Hauptkommissar Mader seine Dienststelle. Einerseits war er froh, Paris und die damit verbundenen Unannehmlichkeiten hinter sich gelassen zu haben, doch andererseits fühlte er sich immer noch gestresst, war jetzt erst so richtig urlaubsreif. Der heftige Streit zwischen ihm und Julia am vergangenen Abend hatte ihm den Rest gegeben.
Eine strahlende Marit empfing ihn auf dem Flur, stellte sich ihm in den Weg. Sie schien ihm aufgelauert zu haben.
»Hey, da bist du ja wieder, Chef! Wir haben schon sehnsüchtig auf dich gewartet.« Nur mit Mühe konnte sie sich davon abhalten, ihn herzlich zu umarmen, seinen Körper an sich zu pressen.
Er blieb stehen, blickte skeptisch drein, stöhnte.
»Soso … dann gibt es also einen neuen Mordfall, oder?«
»Ja,