EMP. Andrea Ross

EMP - Andrea Ross


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       Dienstag, 18. Februar 2020

      

      Ich bin wütend. Stinksauer sogar! Der heutige Tag brachte nicht viel Gutes mit sich. Daher kann ich echt froh sein, dass er sich langsam, aber stetig dem Ende zuneigt.

      Heute ist mir nämlich erst so richtig bewusst geworden, wie selbstsüchtig, dumm und oberflächlich der Mensch eigentlich ist, während er sich größenwahnsinnig für die Krone der Schöpfung hält. Sollte der EMP weltweit zugeschlagen haben, dann wird man ja sicherlich bald sehen, wie es um das souveräne Leben dieses arroganten Primaten in Zukunft bestellt sein wird.

      Am besten wird sein, ich erzähle von vorne und der Reihe nach. Heute Vormittag wollte ich wie üblich mit dem Fahrrad zum Rathaus II hinüberfahren. Leider fiel mir in letzter Minute ein, dass ich Peter versprochen hatte, eines meiner Bücher mitzubringen. In diesem dicken Buch geht es um Sinn oder Unsinn von Überlebenstrainings, es enthält Tipps und Tricks zum Überleben in der freien Natur zu jeder Jahreszeit, und das nahezu ohne Ausrüstungsgegenstände. Jenes Buch hatte mir mein Ex-Freund Mark zum vorletzten Geburtstag geschenkt, weil er in einem Anflug von Optimismus glaubte, ich würde so eine Aktion an einem Wochenende mit ihm durchziehen wollen. Da war er allerdings auf dem Holzweg gewesen, wie bei so vielen Punkten in unsere Beziehung. Peter meinte gestern, wir könnten uns aus diesem Band sicher einiges an nützlichen Informationen herausziehen.

      Genervt ließ ich mein bereits aus dem Keller hochgeschlepptes Fahrrad kurz neben der Haustüre stehen und stürmte die Treppe hoch; ich würde nicht lange brauchen, denn das Buch lag ja auf der kleinen Kommode neben der Wohnungstüre fix und fertig zum Mitnehmen bereit.

      Ich hatte zu lange gebraucht! Als ich die Treppe wieder hinunter hastete, hörte ich das charakteristische Klappern der Schutzbleche meines Fahrrades, was unzweifelhaft bedeutete, dass jemand es bewegen musste. Und tatsächlich: ich erhaschte einen allerletzten Blick auf meinen treuen Drahtesel, der soeben mit einem Mann als Fahrer eilig auf die Straße und aus meinem Blickfeld gesteuert wurde.

      Wie lange hatte ich das Fahrrad aus den Augen gelassen, zwei Minuten vielleicht? Einfach geklaut, mitten aus einer belebten Wohnsiedlung! Wütend und entmutigt setzte ich mich erst einmal auf das kleine Treppchen vor der Eingangstüre meines Wohnblocks, um mich selber zu bemitleiden. Jetzt war ich also auch noch zur Fußgängerin wider Willen geworden. Kein Strom, keine Heizung, kein Essen, kein fahrbarer Untersatz. Ich würde zum Rathaus hinüberlaufen müssen und entsprechend lange für die Strecke brauchen. Mist, elender!

      Als ich gerade aufstehen wollte, um mich unter gedachten Verwünschungen des rücksichtslosen Diebes in mein Schicksal zu ergeben und mich auf den Weg zu machen, kam mein Nachbar Ecki atemlos die Treppe heruntergehastet.

      »Gabi, schnell! Du musst mitkommen, mit der Martha stimmt was nicht!« Er packte mich an der Hand und zerrte mich ins Haus, direkt in »Hartzer-Marthas« Wohnung. Schon beim Eintreten fiel mir der leicht süßliche, ekelhafte Geruch auf. Mir schwante Schlimmes.

      »Da hinten liegt sie, ich trau mich gar nicht hinzugehen!«, jammerte Ecki und knibbelte nervös an seinen Fingern herum.

      »Ich weiß ja nicht, was mir ihr los ist! Da wollte ich lieber keinen Fehler machen, mit erster Hilfe und ähnlichem Zeug habe ich nichts am Hut!«

      Ich verdrehte die Augen. War ja wieder klar, dass solch eine undankbare Aufgabe jetzt ausgerechnet an mir hängen blieb! Martha rührte sich kein bisschen, und ich bahnte mir meinen Weg durch die in ihrer Wohnung durchaus übliche Unordnung, bis ich schließlich vor der fettleibigen, bläulich-blassen Frau stand, die einen üblen Geruch verströmte.

      Ich überwand mühsam meinen Ekel und berührte Martha an jener Stelle, an welcher die Halsschlagader eigentlich spürbar pochen sollte. Die Haut fühlte sich wächsern und kühl an. Außerdem sah ich, dass Martha wohl beim Fallen mit dem Hinterkopf gegen die Tischkante geknallt sein musste, denn das Haar war mit Blut verklebt. Nichts, kein Lebenszeichen!

      Tapfer kämpfte ich gegen die aufsteigende Übelkeit an. Ich bat den hibbeligen Ecki, nach einem kleinen Spiegel oder etwas anderem mit glänzender Oberfläche zu sehen und mir den Gegenstand zu bringen. In Filmen hatte ich oft gesehen, dass man mithilfe von Taschenspiegeln herausfinden konnte, ob bei Opfern von Unfällen oder Verbrechen vielleicht noch eine schwache Atmung vorhanden wäre.

      Ecki nahte nach einer gefühlten Ewigkeit tatsächlich mit einem kleinen, verdreckten Spiegel, den ich zunächst angeekelt mit einem Zipfel von Marthas Tischtuch notdürftig säubern musste. Danach hielt ich ihn möglichst dicht vor Mund und Nase der Frau, um herauszufinden, ob er wegen Atemluft beschlagen würde. Doch nach wenigen Sekunden wurde mir klar, dass dies nicht der Fall war. »Sie ist tot!«, bestätigte ich Ecki.

      Der geriet völlig aus dem Häuschen. »Aber wieso? Hat sie jemand umgebracht? Wir müssen sofort die Polizei holen und den Krankenwagen, jemand muss sie abtransportieren! Ich kann doch nicht mit einer Leiche im selben Haus wohnen!« Ecki hyperventilierte, wirkte total panisch. In seinem unkoordinierten

      Bewegungsdrang sah er ein bisschen aus wie eine moderne Version des Rumpelstilzchens.

      In diesem Moment verlor ich vollends die Kontrolle über meine Magenfunktionen, ein wohlbekannter Geschmack stieg mir von der Speiseröhre in den Mund. Hektisch hüpfte ich über Marthas Unordnung, um mich im Badezimmer schleunigst zu übergeben.

      »Komm, ich muss jetzt ganz schnell hier raus!« Dieses Mal packte ich Ecki an der Hand, zerrte ihn aus der Wohnung und die Treppe hinunter, bis wir draußen auf dem Parkplatz standen. Ich musste mich erst einmal hinsetzen, denn meine Knie zitterten, der Kreislauf begann zu streiken. Ecki hingegen lief mit gerunzelter Stirn im Kreis herum und ich fragte mich ernsthaft, ob sich sein Gehirn nun womöglich endgültig in den gnädigen Wahnsinn verabschiedet hatte.

      Langsam und vorsichtig stellte ich mich wieder auf meine wackeligen Beine, packte den rasenden Ecki resolut an beiden Oberarmen, um ihn auszubremsen.

      »Jetzt beruhigst du dich erst einmal und hörst mir zu! Also: du kannst deine abgefahrenen Mord-Theorien, Strahlenangriffe von Außerirdischen oder sonstigen Ideen gleich wieder wegpacken!

      So wie es aussieht, ist Martha einfach unglücklich hingefallen, hat sich hierbei an der Ecke des Couchtisches ein Loch im Kopf zugezogen. Bestimmt war sie schwach, ihr Kreislauf könnte plötzlich zusammengebrochen sein. Kennst sie doch, die hatte bestimmt nicht viele Lebensmittel im Haushalt auf Vorrat, und seit Freitag gibt es schließlich nichts mehr zu kaufen. Sehr organisiert oder einfallsreich war sie noch nie, unsere Frau Nachbarin.

      Na ja, sie hat viel Blut verloren, lag da bewusstlos in ihrer Wohnung. Vermutlich ist sie gar nicht wieder aufgewacht und vielleicht an Austrocknung gestorben, was weiß ich, bin ja auch keine Medizinerin! Aber wir können weder Polizei noch Krankenwagen holen. Hast du etwa schon wieder vergessen, dass kein System mehr funktioniert?«

      Ecki sah durch mich hindurch, als wären meine Worte bei ihm gar nicht bis ins Bewusstsein vorgedrungen. Wahrscheinlich stand er unter Schock, war durchgedreht, oder sogar beides auf einmal. Verdammt, was sollte ich jetzt bloß machen? Das Fahrrad war geklaut, ich fühlte mich schwach auf den Beinen, wir hatten eine Leiche im Haus liegen und Nachbar Eckerts Verstand hatte sich in eine abstruse Parallelwelt verflüchtigt. Ein bisschen viel für einen einzelnen Vormittag, auch wenn man hart im Nehmen ist! Ein lautes metallisches Schleifgeräusch, untermalt von Poltern und dem ohrenbetäubenden Röhren eines Motors, riss mich aus meinen düsteren Überlegungen. Ich ließ Ecki an Ort und Stelle stehen, schleppte meinen ausgelaugten Körper über den Parkplatz der Wohnanlage zur Straße, welche das städtische Klinikum mit einer breiten Ringstraße verband. Was war jetzt wieder Neues im Gange?

      Der Anblick, welcher sich mir bot, hätte locker aus einem Endzeit-Movie stammen können. Ein vorsintflutlicher Panzer schepperte röhrend im strahlenden Sonnenschein langsam die Fahrbahn entlang und schob hierbei alles zu Blechknäueln zusammen, was ihm im Wege stand. Am Fahrbahnrad türmten sich deformierte Autos, nur die Einfahrten wurden frei gehalten. Auch wenn die Szenerie unwirklich und beängstigend anmutete: wir wurde schlagartig klar, dass diese Aktion des Militärs auch ihre Vorteile


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