EMP. Andrea Ross

EMP - Andrea Ross


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werde, wenn der Kampf ums Überleben erst voll in Gang kommt.

      Er kündigte an, dass seiner Ansicht nach die Straßen bereits in Kürze nicht mehr sicher betreten werden können. Dass die Anarchie Einzug halten wird, auch im sonst eher beschaulichen Bayreuth.

      Einzelpersonen, die nicht über passende Ausrüstung verfügen, würden dann die ersten sein, welche in dieser rabiateren Gesellschaft über Bord gehen; daher müsse man vorausschauend planen. Selbstverständlich werde man versuchen, zunächst in festen Gebäuden Quartier zu beziehen. Falls es in der Stadt aber zu gefährlich werde, dann sei es schlauer, sich mitsamt den Zelten in die Wälder zu verfügen. Fast wie Robin Hood!«, fügte er augenzwinkernd hinzu.

      Die Sekretärin sah betreten auf ihre lackierten Fingernägel und schwieg, mühsam die Tränen zurückhaltend. Ich glaube, am heutigen Sonntag haben manche erst begriffen, wie sehr dieser EMP ihr gewohnt behäbiges Leben umgekrempelt hat.

      Auch ich stehe vor einem neuen Problem. Die letzten sechs meiner Teelichter sind fast komplett heruntergebrannt, schon flackern die winzigen Flämmchen im verzweifelten Versuch, nicht im restlichen Wachs zu ersticken. Ich werde morgen früh weiterschreiben müssen, wenn ich meine Augen nicht ruinieren will. Meine beiden dicken Stumpen-Kerzen benötige ich leider für andere Zwecke, zum Beispiel, wenn ich nachts aufstehen muss. Ich hatte nie Angst vor der Dunkelheit, auch als Kind nicht.

      Aber verglichen mit heute erscheint mir der Gedanke an die Nächte vor dem EMP fast unwirklich, weil die Stadt auch nachts voller Licht und Leben gewesen war. Jetzt herrscht tiefste Finsternis, und mit ihr kommen lähmende Ängste hoch, die ich bisher nicht gekannt habe. Deshalb brauche ich die Gewissheit, Kerzen zur Hand zu haben, falls ich mich gar zu sehr ängstige.

      Es ist schon merkwürdig, wie schnell der Mensch sich auf neue Gegebenheiten einstellen kann, wenn er dazu gezwungen ist. Mir kommt mein früheres bequemes Leben jetzt schon wie ein fadenscheinig gewordener Traum vor, wie ein romantisch verklärtes Fatum Morgana.

      Hat sich dieser schicksalsträchtige EMP tatsächlich erst vor wenigen Tagen ereignet? Wir alle haben satt und dekadent in einer höchst fragilen, trügerischen Sicherheit gelebt, und haargenau das wird vielen von uns jetzt zum Verhängnis.

      *

      Bevor ich nachher wieder zum Rathaus hinüberradle, schreibe ich schnell noch kurz die restlichen Ergebnisse des gestrigen Tages auf. Es reicht, wenn ich dort erst nach der Rückkehr von Peter und Klaus eintreffe; vielleicht kann ich dann ein bisschen dabei helfen, die sperrigen mittelalterlichen Gebrauchsgegenstände aus dem Auto zu wuchten und im Foyer des Rathauses einzulagern. Wer hätte jemals daran gedacht, dass sich die Eingangshalle dieser Behörde eines Tages zur Kommandozentrale einer aus Kollegen wild zusammengewürfelten Überlebensgemeinschaft mausern wird?

      Wir können wahrscheinlich sowieso von Glück reden, dass sich die hochdotierten Chefs eher beim Rathaus I in der Innenstadt blicken lassen, um sich ordentlich wichtig zu machen, anstatt hier in der Außenstelle aufzuschlagen. Deshalb kommt uns wenigstens niemand in die Quere, der etwas dagegen haben könnte, dass wir hier campieren oder behördenuntypische Dinge lagern wollen. Ich hoffe, dass dies weiterhin so bleiben wird.

      Zum Frühstück gab es heute eine kleine Dose Champignons, geschnitten, III. Wahl. So steht es auf dem Etikett. Nie hätte ich diese Dinger normalerweise pur gegessen, doch vorhin habe ich sie in Windeseile gierig verputzt, einfach aus der Dose heraus.

      Was gäbe ich jetzt für eine Tasse Kaffee und ein schönes Vollkorn-Brötchen mit Marmelade! Ich glaube, ich wiederhole mich; es ist einfach zum Auswachsen, nichts läuft mehr wie gewohnt!

      Aber zurück zum gestrigen Tag. Im Laufe des Nachmittags fanden sich insgesamt vier hilfebedürftige Bürger ein, welche dumme Fragen stellten und ausgerechnet von uns eine Lösung ihrer vielfältigen Probleme erwarteten. Nun, denen konnten wir leider nicht weiterhelfen! Wir rieten ihnen allen, doch lieber beim Rathaus I vorbeizuschauen, wo ja auch die Notunterkunft nebst Verpflegung in der Tiefgarage zur Verfügung stehe. Wir sind schließlich selbst mit der Situation völlig überfordert, genau wie alle anderen Bürger dieser Stadt.

      Ach ja, der Bericht der Task Force Nr. 5 steht noch aus! Diese Gruppe hatte den Auftrag, sich um die Sicherheitsfragen unserer Gemeinschaft zu kümmern. Da jedoch niemand außer Hausmeister Klaus über Schusswaffen oder auch nur einen Waffenschein verfügte, trieben sie lediglich zwei Gaspistolen zur Selbstverteidigung, einen Baseballschläger und drei Döschen Pfefferspray auf. Beamte sind in der Regel nun mal keine gewaltbereiten »Rambos«, sondern mehr oder weniger pazifistische Schreibtischtäter.

      Peter versprach aufgrund dieser eher mageren Ausbeute, im Lager seiner Schwester zusätzlich nach Langbögen und Pfeilen zu sehen. Besser als gar nichts, auch wenn das uns Menschen des 21. Jahrhunderts schon reichlich albern anmutet.

      Ich schwinge mich jetzt mal auf mein Fahrrad und sehe zu, was heute so geht.

      *

       Montag, 17. Februar 2020

      

      Gleich zu Beginn möchte ich stolz anmerken, dass Peter mich vorhin ganz offiziell mit dem Niederschreiben unserer Geschichte betraut hat. Ich zeigte ihm diese Aufzeichnungen und er hat begeistert in der Runde daraus vorgelesen. Er verkündete im Anschluss daran, dass wir ab sofort eine frischgebackene ChronikSchreiberin unter uns hätten: meine Wenigkeit.

      Das bedeutet, dass ich jetzt eine Art dienstlichen Auftrag zum Schreiben wahrnehme und sich deswegen künftig die Anderen darum kümmern werden, dass ich immer genügend Kerzen zur Verfügung habe, um auch nachts schreiben zu können. Hurra! Eine Sorge weniger.

      Eine halbe Stunde später tauchte Klaus mit den Sachen aus dem Mittelalter-Lager auf. Die meisten Gegenstände sind aus Holz oder Gusseisen gearbeitet und wirken, als könnten sie selbst Jahrtausende mühelos überstehen. Als ich die ebenfalls mitgebrachten Schwerter sah, musste ich herzhaft lachen.

      »WAS denn?«, grinste Peter schelmisch. »Das sind zwar bloß Schaukampf-Waffen, sie sind also kein bisschen scharf. Aber ein wenig Angst einflößen könnten sie eventuellen Angreifern durchaus, findet ihr nicht? Selbst wenn die Dinger recht stumpfe Klingen haben – über den Schädel gezogen bekommen möchte ich solch einen schmucken Zweihänder nicht unbedingt, ihr etwa?«

      »Nö, nicht wirklich!«, bestätigte Alexandra und prüfte das Gewicht eines der Schwerter, indem sie es mit ausgestreckten Armen wie eine Kriegerprinzessin vor ihren Körper hielt. »Puh, ganz schön heftig! Wohin sollen wir die Sachen denn bringen? Gleich hierher in die Lobby?«

      Peter überlegte angestrengt. »Nein, ich glaube, das wäre zu gefährlich! Wegen der riesigen Glasfront hier vorne, die es Einbrechern viel zu leicht macht. Was nützen einem die besten Waffen, wenn sie gleich jemand entwendet?

      Ich bin davon überzeugt, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis die ersten Mitbürger Straftaten begehen, um sich oder ihren Familien das Überleben auf Kosten anderer Menschen zu sichern. Dann müssen wir mit allem rechnen.«

      Noch während er sprach, kam Peter offenbar die zündende Idee. Er winkte Klaus zu sich und fragte, ob er über die Schlüssel zum Tresorraum verfüge. Dies ist ein großes Zimmer mit vergitterten Fenstern im Erdgeschoss, welches in Vor-EMP-Zeiten für Sozialhilfe-Auszahlungen in bar gedient hatte.

      »Für den Raum ja, aber natürlich nicht für den Tresor! Den verwalten die Kollegen aus der Stadtkasse.« Klaus kramte den richtigen Schlüssel für das Sicherheitsschloss hervor und sperrte auf, deutete eine kleine Verbeugung an. »Bitte einzutreten!«

      Ich staunte. Normalerweise kannte man Hausmeister Klaus im Dienst als bärbeißigen, meist schlecht gelaunten Haudegen, der einen grundsätzlich erst einmal anfrotzelte, sobald man auch nur eine Glühbirne ausgetauscht haben wollte. Seit Beginn der Krise jedoch lief er zur Höchstform auf, zeigte schwarzen Humor und packte bereitwillig an, wo immer man ihn gebrauchen konnte.

      Vielleicht sind manche Menschen einfach nicht für ein eintöniges, ereignisloses Leben hinter dem Laub-Föhn zu gebrauchen. Erst unter Belastung zeigen sie ihren wahren Wert, ihre Begabung und Zähigkeit.


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