EMP. Andrea Ross

EMP - Andrea Ross


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      Hausmeister Klaus ist immens wichtig, weil er die Schlüssel zum Rathaus besitzt und das einzige fahrbereite Auto sein eigen nennt. Außerdem lagert in seinem dienstlichen Fundus jegliches Werkzeug, das man sich nur vorstellen kann. Vieles davon funktioniert auch ohne Strom, kann uns somit noch sehr nützlich werden.

      Wenn ich dran denke, dass Letzterer früher immer heimlich ausgelacht wurde, weil er stundenlang mit einem Laub-Föhn unterwegs war und der Herbstwind seine Bemühungen binnen Sekunden wieder zunichte machte … So einige Kollegen vertrieben sich früher gerne die dienstliche Langeweile mit diesem Anblick. Eine gewisse Situationskomik ist unbestreitbar vorhanden, auch wenn die Lage in Wirklichkeit sehr ernst ist.

      So! Jetzt brauche ich schon wieder Teelichter, um weiterschreiben zu können. Lange werden sie nicht mehr reichen, dann ist es vorbei mit meinen nächtlichen Aktivitäten.

      *

      Wir zählen 8 Personen in unserer neu gegründeten LebensmittelTask Force. Neben Alexandra und mir gingen heute Morgen zwei Kollegen aus dem Versicherungsamt sowie vier aus dem Sozialamt auf die Suche nach etwas Essbarem. Anfangs bewegten wir uns sehr vorsichtig über die glatten Gehsteige, wenig später kam die Sonne hervor und taute den eisigen Überzug auf, so dass wir weitaus schneller vorankamen.

      Auf dem Weg in die Innenstadt schmiedeten wir einen groben Plan, wie wir der Reihe nach vorgehen würden. Zunächst zählte jeder den Geldbetrag in bar, welchen er bei sich trug. Falls irgendwo wider Erwarten ein Geschäft geöffnet wäre, wollten wir als erste Maßnahme ganz normal haltbare Lebensmittel einkaufen gehen, vorrangig selbstverständlich Konserven.

      Schon nach wenigen Metern wurde es unübersehbar, dass sich seit gestern bereits so einiges verändert haben musste. Neben den überall nutzlos herumstehenden Autos waren erste Spuren der Verwüstung sichtbar.

      Was ich eigentlich nicht für möglich gehalten hatte, war wohl längst zur bitteren Realität geworden. Es musste da draußen schon heute am zweiten Tag der Krise Menschen geben, die sich um Gesetz und Ordnung keine Gedanken mehr machten und für sich selbst zusammenrafften, was immer sie zwischen die Finger bekommen konnten.

      Der erste Supermarkt einer kleinen regionalen Kette kam in Sicht. Selbstverständlich war mangels Beleuchtung hinter den mit Werbung plakatierten Schaufensterscheiben nichts als Dunkelheit zu erkennen. Dennoch zwang uns ein törichtes Fünkchen Hoffnung, bis zur Glas-Eingangstür zu gehen und nachzusehen, ob sie nicht doch zu öffnen ginge.

      Natürlich war das nicht der Fall. Wir liefen um das Gebäude herum bis zur rückwärtigen Metalltür des Warenlagers, weil wir hofften, dort vielleicht Personal anzutreffen, welches uns unkonventionell ein paar Lebensmittel hätte verkaufen können.

      Offensichtlich waren wir aber zu spät gekommen, jemand musste dem Anschein nach bereits hier gewesen sein. Die schnell verderblichen Lebensmittel aus den Eistruhen und Kühlregalen waren in und neben den Müllcontainern entsorgt worden.

      »Nehmen wir uns doch einfach von hier etwas mit!«, schlug Alexandra spontan vor und begutachtete schon einmal die traurige Ansammlung von Joghurtbechern und aufgetauten Gemüsebeuteln, die neben den Müllcontainern aufgetürmt lagen.

      Die anderen schüttelten entsetzt den Kopf. »Spinnst du? Was ist, wenn wir von diesem verdorbenen Gammel-Essen eine Lebensmittelvergiftung kriegen? Das Zeug riecht bereits streng, weil die Sonne voll draufscheint. Meinst du wirklich, die hätten etwas entsorgt, das noch essbar und damit verkäuflich gewesen wäre?«, fragte Selina und rümpfte angeekelt die Nase.

      »Ach was, wir müssen einfach ein wenig wühlen und stöbern, es kann ja nicht alles gleichzeitig schlecht geworden sein! Schließlich haben wir Mitte Februar, da geht es nicht so schnell mit dem Schimmel und der Fäulnis«, konterte ich genervt. Alexandra und ich hätten nämlich überhaupt kein Problem damit gehabt, den Müllberg Stück für Stück zu untersuchen, um Brauchbares zu extrahieren.

      Selina verschränkte trotzig die Arme. »Peter hat aber gesagt, wir müssen als Team arbeiten! Die Mehrheit von uns ist eindeutig dagegen, dass wir uns mit diesem dreckigen Müll aufhalten. Wir haben vorhin einstimmig beschlossen, zuerst nach geöffneten Märkten zu sehen, in denen man noch ganz normal gegen Bezahlung einkaufen kann. Schon vergessen?«

      Das konnte ja heiter werden! Ich suchte Alexandras Blick und sah, dass sie die Augen nach oben verdrehte. Wir fragten uns wohl beide, ob ein gemeinsames Überleben mit solchermaßen anspruchsvollen und empfindlichen Mitstreitern überhaupt gelingen kann, oder ob die Mission zum Scheitern verurteilt ist. Zähneknirschend trotteten wir hinter unserer sogenannten Task Force her, die sich schon wieder in Bewegung gesetzt hatte.

      Ich muss es kurz machen, denn mein Handgelenk schmerzt. Wenn ich zu lange schreibe, gibt das wahrscheinlich eine schöne Sehnenscheiden-Entzündung.

      Warum soll ich auch ausführlich beschreiben, dass sich bei allen Supermärkten dasselbe frustrierende Bild bot?

      Halt nein, um bei der Wahrheit zu bleiben: es waren zwei davon bereits aufgebrochen und restlos ausgeplündert worden. Aber das machte die Situation für uns auch nicht besser. Wir zählten uns nach wie vor zu den anständigen Menschen, die ihren Charakter und ihre Erziehung nicht bei der ersten Gelegenheit über Bord zu werfen gedachten. Unsere Reichweite war zudem begrenzt, wir konnten zu Fuß unmöglich alle Einkaufsmärkte der Stadt abklappern. Dafür wäre sogar eine Stadt wie Bayreuth zu weitläufig angelegt gewesen.

      Zwei Dinge stellten wir außerdem an diesem Samstag fest: erstens formieren sich momentan Kräfte der Polizei und des Militärs, um eine gewisse öffentliche Ordnung zu gewährleisten. Sie tun sich nur ein wenig schwer damit, weil ja auch sie bei der Bewältigung ihrer Aufgabe auf technische Hilfsmittel und Fahrzeuge weitestgehend verzichten müssen.

      Ein Soldat, den wir in der Innenstadt antrafen, sprach gar von einer geplanten Ausgangssperre und der baldigen Verhängung des Kriegsrechts. Man konnte ihm jedoch recht deutlich ansehen, dass er selber nicht wusste, wie dies de facto zu bewerkstelligen wäre. Zweitens hatte man im Hauptgebäude der Stadtverwaltung mittlerweile die städtische Großraum-Tiefgarage für die Allgemeinheit geöffnet, in welcher sich seit den 1970er Jahren auch ein großer Katastrophen-Luftschutzbunker befindet. Dort werden jetzt Decken und Lebensmittel für Bedürftige ausgegeben, so lange der Vorrat reicht. Auch könnte man dort Unterschlupf finden, falls man obdachlos ist.

      Gut zu wissen, denn man kann derzeit schwer abschätzen, wie schlimm es noch kommen wird und ob die Krise zeitlich begrenzt ist. Wir haben auf unserem Weg so einige Polizisten und Soldaten befragt, keiner wusste uns das zu sagen; aber alle wirkten sie besorgt.

      Wir kehrten heute Nachmittag also mit leeren Händen zu unserer Außenstelle des Rathauses zurück, bestiegen frustriert unsere Fahrräder und radelten zurück nach Hause. Jeder für sich alleine. Ich habe aufgrund der jüngsten Erfahrungen echte Angst vor der Zukunft bekommen.

      *

       Sonntag, 16. Februar 2020

      

      Für den heutigen Tag haben wir abgemacht, dass sich die fünf Task Force-Gruppen an unserer Rathaus-Außenstelle treffen, um die jeweiligen Erkenntnisse vom gestrigen Einsatz auszutauschen und passende Schlüsse daraus zu ziehen. Schließlich ist der Sonntag aufgrund der schwierigen Umstände nicht länger als Arbeitstag tabu.

      Unser Bericht für die Gruppe 1 wird wohl eher peinlich ausfallen, weil diese bislang so überhaupt nichts Sinnvolles in puncto Lebensmittelbeschaffung erreichen konnte. Mir steigt gleich wieder der Adrenalinspiegel, wenn ich an das zimperliche Verhalten meiner Kollegen von gestern denke. Na, die werden auch noch umdenken müssen!

      Mich interessiert ganz besonders, was Klaus und seine Mitfahrer außerhalb der Stadt in Erfahrung bringen konnten. Außerdem werde ich vorher einen kleinen Umweg radeln und bei den Müllcontainern des Supermarktes stoppen, neben welchem gestern die aussortierten Lebensmittel deponiert waren. Ich habe nämlich meinen Küchenschrank durchsucht und hierbei festgestellt, dass meine Vorräte schon jetzt bedenklich zur Neige gehen.

      Himmel noch mal, ein paar Kilo weniger auf den Hüften würden


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