Liberale Demokratie in schwierigen Zeiten. Jens Hacke
Statt komplizierter Problembewältigung will man einfache Lösungen, statt mühsamer Kompromisssuche herrscht die Sehnsucht nach Führung von oben, statt Möglichkeiten für das politische Engagement wahrzunehmen, erklärt man die politische Elite zum Sündenbock.
Zutiefst irritierend ist allerdings, dass uns kein adäquater Krisenbegriff zur Verfügung steht, der uns hilft, die gegenwärtige Situation zu verstehen. Sozioökonomisch war in Deutschland vor Corona keine größere Not erkennbar als in früheren Jahren. Im Gegenteil: Die Wirtschaft boomte, die Arbeitslosigkeit bewegte sich auf einem historischen Tiefstand, und Haushaltsüberschüsse boten politische Handlungs- und Verteilungsspielräume wie niemals zuvor. Trotzdem erreichte die Unzufriedenheit mit der liberalen Demokratie in der Bundesrepublik ein bislang ungekanntes Ausmaß.
Das Misstrauen in das politische System zeigt sich am Erfolg der Rechtspopulisten überdeutlich. Ihnen gelingt es, als reine Protestparteien, Ablehnung und Unzufriedenheit zu bündeln, ohne auch nur den Ansatz einer tragfähigen politischen Programmatik erkennen zu lassen. Als die AfD Mitte 2015 vor dem Sturz in die politische Bedeutungslosigkeit stand, sicherte sie sich durch die monothematische Instrumentalisierung der Flüchtlingsfrage ihr vorläufiges Überleben. Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, lediglich die Rechtspopulisten zu dämonisieren und nicht nach den Schwächen der etablierten Parteien zu fragen.
Die Krise wurzelt mithin in tieferen Ursachen und kollektiven Projektionen, in Statusverlustängsten und im Gefühl bestimmter Bevölkerungsgruppen, benachteiligt zu sein. Dabei verweist die Abkehr von der liberalen Demokratie auf drei Defizite, die oberflächliche Strukturähnlichkeiten zur Weimarer Lage aufweisen. Erstens werden die Leistungsfähigkeit und die demokratische Legitimation der parlamentarisch-repräsentativen Regierungsweise generell in Frage gestellt. Zweitens traut man der liberalen Demokratie nicht mehr zu, hinreichend für gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sorgen und Antworten auf Sinnfragen zu finden. Drittens gibt es einen Vorbehalt gegenüber den Verteilungsungerechtigkeiten einer kapitalistischen Ordnung; auch die Wendung gegen Asylsuchende und Flüchtlinge ist dafür ein Zeichen, denn sie vollzieht sich in der Regel mit dem Hinweis darauf, dass sich ein Anrecht auf Unterstützung auf Staatsbürger*innen beschränken sollte. Dieser Umstand kennzeichnet eine Leerstelle: Soziale Gerechtigkeit und prekäre Lebensumstände werden weder zureichend problematisiert noch Gegenstand politischer Auseinandersetzung.
Sicher, Geschichte wiederholt sich nicht. Kriegsfolgen, Inflation und Weltwirtschaftskrise sorgten in Weimar für ein schwer vergleichbares, überhitztes politisches Klima. Die soziale Not war real, die ideologischen Kämpfe waren existenziell. Dennoch klingen die damaligen Krisendebatten auf unheimliche Weise vertraut. Das Aufkommen einer radikalen Rechten, welche die Massen mobilisierte, hielt man nach dem Untergang der Monarchie für ebenso unwahrscheinlich wie heute Trumps Präsidentschaft oder eine AfD auf dem Rang der drittstärksten, in vielen Bundesländern auf dem der zweitstärksten Partei. Und dem globalen Finanzkapitalismus kann man gegenwärtig kaum mehr vertrauen als in der Ära der verheerendsten Weltwirtschaftskrise.
Der große Nationalökonom und liberale Intellektuelle Moritz Julius Bonn (1873–1965) diagnostizierte bereits im Jahr 1925 eine „Krisis der europäischen Demokratie“. Sein gleichnamiges Buch liest sich in weiten Teilen wie eine Bestandsaufnahme zur Gegenwart. Als Reaktion auf Modernisierungsprozesse beobachtete er einen ressentimentgeladenen Nationalismus, der sich gegen Minderheiten wandte und eine Politik der Ausgrenzung praktizierte. Nationalisten und Faschisten attackierten die zarten Anfänge internationaler Kooperation im Völkerbund und die ersten europäischen Versöhnungsinitiativen vehement. In Benito Mussolini sah Bonn den Vorboten einer pseudodemokratischen Regierungsweise, bei der sich die Mitwirkung des Volkes auf die plebiszitäre Legitimation von bereits vollzogenen Maßnahmen beschränkte. Die faschistische und später nationalsozialistische Propaganda zielte darauf ab, das Volk als homogene Masse im Führerwillen aufgehen zu lassen. Eine klare Absage an Gewaltenteilung, Pluralismus und Rechtsstaat.
Wie andere Weimarer Demokraten sorgte sich Bonn um die junge Republik, die sich noch nicht auf einen eingeübten Verfassungspatriotismus und eine bewährte demokratische Kultur stützen konnte. Bonn wusste, dass die Stabilität der liberalen Demokratie von ihrer Leistungsfähigkeit abhing. Gute demokratische Regierung musste allen Bürgerinnen und Bürgern Anteil am Gemeinwohl bieten – das hieß vor allem soziale Sicherheit und klassenübergreifende Prosperität. Dabei sollte der Bürger aber nicht auf die Rolle des Konsumenten reduziert werden. Das Ideal einer bürgerlichen Selbstregierung verlangte nach Partizipation und Einsatz für das Gemeinwesen.
Kluge Staatsrechtler wie Hans Kelsen, Hermann Heller oder Richard Thoma realisierten, dass politischer Irrationalismus und Faschismus kein Schicksal waren, sondern strukturelle Ursachen hatten. Sie erkannten, dass sich die liberale Demokratie schwer damit tat, die Herzen der Bürgerinnen und Bürger zu gewinnen. Demokratisches Bewusstsein benötigt Überzeugung, den Glauben an gemeinsame Ziele und kann nur durch eine republikanische Erziehung gewährleistet werden. Trotz aller Schwierigkeiten sahen sie in der demokratischen Regierungsweise die aussichtsreichste Form, hinreichend für soziale Integration zu sorgen. Funktionierende demokratische Gemeinwesen setzen eine zufriedene gesellschaftliche Mitte voraus – und es ist Aufgabe der Politik, durch aktive Wirtschafts- und Sozialpolitik für Lebenschancen aller Schichten zu sorgen.
Diese Herausforderungen waren damals neu, denn der Wohlfahrtsstaat steckte in den Kinderschuhen. Unter dem Leitbegriff der sozialen Demokratie suchten moderne Liberale und Sozialdemokraten nach Formen und Methoden, um den krisenanfälligen Kapitalismus einzuhegen. Die Marktwirtschaft musste demokratisch werden, das heißt: der Allgemeinheit Vorteile bringen, mehr Arbeitnehmerrechte und betriebliche Mitbestimmung zulassen. Das Wirtschaftsleben war ohne politische Regulierung undenkbar geworden. Moritz Julius Bonn, Verfechter eines demokratischen Kapitalismus, richtete seine Kritik nicht gegen die Forderungen der Arbeiterbewegung, sondern gegen Unternehmereliten, die ihrer gesellschaftlichen und politischen Verantwortung in der Demokratie nicht gerecht wurden. Ihnen warf Bonn vor, die Gewinne zu privatisieren und die Verluste zu sozialisieren, ohne sich um die gesellschaftliche Balance zu scheren. Auch diese Kritik bleibt aktuell. Wie damals geht es heute darum, die Dynamik der Wirtschaft politisch auszubalancieren und sozial abzufedern. Neben der notwendigen Gewährung von Aufstiegschancen für alle Bevölkerungsteile sind allerdings heute ökologische Verantwortung und globale Gerechtigkeitserwägungen als neue Faktoren hinzugetreten.
Als Zeitzeugen von Bolschewismus und Faschismus entwickelten Liberale bereits Mitte der Zwanzigerjahre eine Vorform der Totalitarismustheorie, mit der sich die politischen Extreme in Ideologie und Praxis verstehen ließen. Die Gegner einer rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung formierten sich damals ähnlich schnell und unvorhergesehen wie in der Gegenwart. Ihre Militanz war unübersehbar. Überzeugte Republikaner diskutierten deshalb frühzeitig über die Gestaltung einer wehrhaften Demokratie. Dass sie politisch keinen Widerhall fanden, ist ihnen nicht anzulasten. Aber nach 1945 kehrten ihre Ideen zurück ins Nachkriegsdeutschland und formten den Konsensliberalismus im Kalten Krieg.
Es bleibt daran zu erinnern, dass politische Denker Neuland betraten, als sie damals egalitäre Massendemokratie und liberale Freiheitswerte zusammen dachten. 1918 war die Geburtsstunde der liberalen Demokratie, nicht nur in Deutschland, sondern in weiten Teilen der atlantischen Welt, denn das freie und gleiche Wahlrecht, auch für Frauen, setzte sich erst jetzt, nach und nach durch – in Großbritannien 1928 und in Frankreich noch später, nämlich 1944. Heute wird uns klar, dass die liberale Demokratie keinem determinierten Entwicklungsgang entsprungen ist. Sie beruht auf hart erkämpften Kompromissen zwischen bürgerlichem Liberalismus und Sozialdemokratie. Die einen mussten soziale und politische Gerechtigkeitsforderungen anerkennen, die anderen die Unhintergehbarkeit des Rechtsstaates und der individuellen Freiheit.
Im Rückblick auf das 20. Jahrhundert lässt sich konstatieren, dass die Demokratie nie Ausgangspunkt war, sondern fast immer zuletzt kam, also auf der vorherigen Verankerung liberaler Ideen aufbaute. Anders ausgedrückt: Nur als liberale Demokratie hatte sie bislang Chancen auf Stabilisierung und Dauerhaftigkeit. Das sollte man auch in Erinnerung behalten, wenn Rechtspopulisten das Hohelied auf die „illiberale Demokratie“ singen. Damals wie heute bekämpft der Antiliberalismus die Demokratie als Lebensform, die von Pluralität, kultureller Buntheit und individuellen Entfaltungsräumen geprägt sein soll. Feminismus,