Liberale Demokratie in schwierigen Zeiten. Jens Hacke
vertieft hatte. Die Auseinandersetzung um die Figur Gustav Stresemann, an der sich die Konflikte entzündeten, spielte hier zweifellos eine entscheidende Rolle. Dabei profilierte sich Stresemann recht bald als zukunftsoffener, der parlamentarischen Demokratie durchaus zugewandter Politiker.
Der sozialliberale Aufbruch wird vor allem durch den Gründungsaufruf der Deutschen Demokratischen Partei vom 16. November 1918 verkörpert. Wenn man sich die beeindruckende Liste der Unterzeichner (und der später Hinzugestoßenen) vor Augen hält, bekommt man einen Eindruck von der intellektuellen Energie und Zuversicht, die damals diese Neugründung begleiteten: Zu den herausgehobenen Persönlichkeiten gehörten Moritz Julius Bonn, Albert Einstein, Heinrich Herkner, Rudolf Mosse, Hugo Preuß, Alfred Weber, Marianne Weber, Theodor Wolff – später kamen Friedrich Naumann, Walther Rathenau, Ernst Troeltsch und Max Weber hinzu. Ich möchte diesen Aufbruch unter drei Stichworten diskutieren: Utopie der Intellektuellenpolitik, sozialliberale Vision, Vernunftrepublikanismus.
1. Utopie einer intellektuellen Politik: Sicherlich hat es nie zuvor oder danach in Deutschland ein derart hochkarätiges Engagement von angesehenen Intellektuellen für die Demokratie gegeben. Darin lag Chance und Gefahr zugleich. Ohne die linksliberale intellektuelle Mobilisierung ist der überwältigende Wahlerfolg der DDP bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung nicht zu erklären. Niemals wieder hat eine linksliberale Partei über 18 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen können. Die Novemberrevolution war daher auch eine bürgerliche Revolution – dies zeigte nicht nur das Engagement in Bürgerräten18, sondern auch die gestaltende Rolle liberaler Politiker und Intellektueller im Prozess der Verfassungsgebung.
Die Hoffnung auf „Philosophenkönige“ spiegelte freilich auch ein überkommenes elitär-liberales Moment. Zwar wollte man sich auf linksliberaler Seite gesellschaftlich öffnen, aber in der Personalrekrutierung und in der partizipativen Ausrichtung dominierten honoratiorenliberale bildungs- und großbürgerliche Tendenzen. Eine in Aussicht gestellte Mittelstandspolitik litt damit von Anfang an am Mangel politischer Repräsentanten, wie Lothar Albertin in seiner Pionierstudie herausgearbeitet hat.19
2. In gewisser Weise artikulierte der Weimarer Verfassungskonsens zwischen Sozialdemokratie und progressivem Linksliberalismus eine im 20. Jahrhundert nachhaltig wirksame sozialliberale Vision. Sie zielte auf die Einhegung des Kapitalismus, eine gestaltende Rolle des Wohlfahrtsstaates und auf die soziale Demokratie als Leitwert. Im Gründungsmanifest der DDP wurde „die Gestaltung einer neuen sozialen und wirtschaftlichen Politik“ gefordert.20 Das hieß eine völlig neue Perspektivierung der Staatsaufgaben. Liberale forderten nun einen aktiven Staat; Keynes’ später formulierte Einsicht vom Ende des Laissez-faire war auch in Deutschland verbreitet.21 Die Suche nach sogenannten „dritten Wegen“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus hat eine Wurzel in der Weimarer Debatte. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die anfänglich geäußerte Offenheit gegenüber einer Sozialisierung der Schlüsselindustrien oft mit taktischen Lippenbekenntnissen zu tun hatte, so wurde die Wirtschafts- und Sozialpolitik doch als ein ganz neues Feld begriffen.22
3. Die lange abschätzig benutzte Formel vom Vernunftrepublikanismus, dem wie im Falle Friedrich Meineckes und einiger anderer ein „Herzensmonarchismus“ vorausging, hat in den letzten Jahren eine Neubewertung erfahren.23 Warum sollte die Parteinahme für die Republik aus Vernunft und Einsicht auch tadelnswert sein? Der undifferenzierte Vorwurf eines liberalen Vernunftrepublikanisus verliert aus dem Blick, wie schnell sich allein zwischen 1918 und 1922 (Marsch auf Rom) der Bezugsrahmen des politischen Denkens wandelte: Zwar finden sich auch schon bei wachen Zeitgenossen wie Ernst Troeltsch Bemerkungen über die Bedrohungslage der Demokratie in der Zange von neuen links- und rechtsextremen Massenbewegungen. Aber es braucht keiner langen Erklärung, um Verständnis dafür aufzubringen, dass im Kaiserreich sozialisierte Vernunftrepublikaner noch ohne Konzept waren, wenn es um die Abwehr neuer rechtsnationaler/faschistischer Republikgegner ging. Allerdings bietet die Ideengeschichte des Liberalismus in Weimar – und darauf haben nicht zuletzt Christoph Gusy und Michael Dreyer hingewiesen – eine reiche Debatte darum, wie sich der demokratische Staat gegen seine Gegner wehren kann.24 Auch dies lässt sich durchaus unter dem Aspekt des Innovativen betrachten, denn es handelte sich um eine weitgehend neue, vorher unbekannte Konstellation.
Überhaupt liegt spätestens seit der Weimarer Republik das Problem darin, dass Politiker und Parteien, die sich in einer liberalen Tradition verorten (oder von Gegnern als Liberale bezeichnet wurden), mit dem Sammelbegriff des Liberalismus häufig nur sehr kursorisch zu erfassen sind. Wir müssen schon angeben, welche Art von Liberalismus wir meinen – denn normativ anspruchsvolle, an der Demokratie interessierte liberale Denkströmungen hat es in Weimar durchaus gegeben, in nicht geringer Zahl.
4. Langfristige Innovationen liberaler Theoriebildung
Es hieße nicht nur, die innovativen Potentiale zu verleugnen, wenn wir die historischen Verlierer von 1933 ein weiteres Mal bestrafen, indem die geringe Resonanz ihrer Ideen zum Maßstab für ihre Beurteilung wird. Es wäre auch in hohem Maße unrealistisch, wenn wir in irgendeiner Weise davon ausgingen, dass die mannigfaltigen strukturellen und kontingenten Faktoren der Weimarer Staatskrise durch einen einzigen, wie auch immer gearteten Politikentwurf hätten bewältigt werden können.
Meine These ist deshalb: Der Weimarer Liberalismus wurde zwar parteipolitisch immer schwächer, und die liberale Idee wurde zusehends heimatloser, aber das Bemühen um die intellektuelle Erneuerung des Liberalismus war trotzdem nachhaltig. Man kann deshalb die Zwischenkriegszeit – übrigens nicht nur bezogen auf die Weimarer Republik, sondern innerhalb der „Geschichte des Westens“ (H.A. Winkler) – als eine zweite „Sattelzeit“ des liberalen Denkens begreifen.
Innerhalb der ersten Sattelzeit, so wie der Historiker Reinhart Koselleck das Konzept eingeführt hat, bildeten sich die konstitutiven politischen Begriffe der Moderne zwischen 1750 und 1850 heraus25; die zweite passte diese Begrifflichkeiten an das demokratische Zeitalter an. Pointiert heißt dies: Nach der Krise des Weltkriegszeitalters war der Liberalismus erstens nicht mehr ohne Demokratie zu denken, und hier liegt die Bedeutung der Novemberrevolution. Zweitens konnten Liberale fortan den Kapitalismus nur noch als ein vom Staat eingehegtes und auf staatliche Steuerungsfunktionen angewiesenes Wirtschaftssystem begreifen. Drittens schließlich gewannen Liberale Distanz zur nationalen Idee; der Radikalnationalismus der Faschisten und Nationalsozialisten kurierte sie davon, den Machtstaat (wie es noch Max Weber vorschwebte) zum Maßstab erfolgreicher Politik zu erheben – das nationale Interesse konnte sich, wie kluge Liberale nach dem Ersten Weltkrieg wussten, nur im Konzert mit anderen Staaten zur Geltung bringen, war auf internationale Kooperation und die Ausweitung kollektiver Sicherheit angewiesen, sollte dem Frieden dienen, der im Anschluss an Kant als das oberste Ziel der Politik zu betrachten war.26
Wenn wir den Liberalismus nicht als eine Ideologie verstehen, deren Grundsätze gleichsam in Stein gemeißelt sind und an deren ewige Wahrheiten lediglich in verschiedenen Lagen zu erinnern ist, sondern als ein wandelbares, konstellationsabhängiges Denken, das Lern- und Transformationsprozessen unterworfen ist, dann lassen sich als langfristige Wirkungen der demokratischen Revolution von 1918 für die 1920/30er Jahre womöglich drei wichtige Gebiete aufzeigen, auf denen es zu neuen liberalen Positionsbestimmungen kam:
1. Kapitalismus und Demokratie: Die Debatte um die politische Gestaltbarkeit der Ökonomie war eine der fruchtbarsten und bewegtesten nach 1918; sie ergriff die liberale Nationalökonomie ebenso wie sie Brücken zwischen demokratischen Sozialisten und Sozialliberalen schlug. Von Weber bis Schumpeter glaubte man einen nahezu unausweichlichen Zeittrend zum Sozialismus diagnostizieren zu können. Wie konnte man ihn abfedern, lenken oder gar mit kapitalistischen Überlegungen in Einklang bringen? Wie ließ sich die Dynamik der Industriemoderne zum Wohl breiter Bevölkerungsschichten nutzen? Die Antworten darauf waren vielfältig – von den allfälligen Sozialisierungsdebatten seit der Novemberrevolution (sogar Konservative und Liberale nahmen die Forderung nach der Sozialisierung von Schlüsselindustrien in ihre Parteiprogramme auf) bis zu den Diskussionen über einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Natürlich gab es weiterhin standfeste Wirtschaftsliberale wie den Wiener Ludwig von Mises, dessen Bücher über die Gemeinwirtschaft