Liberale Demokratie in schwierigen Zeiten. Jens Hacke

Liberale Demokratie in schwierigen Zeiten - Jens Hacke


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ideelle Aufbruch, als der die Novemberrevolution in vielerlei Hinsicht zu betrachten ist, traf allerdings auf schwierige gesellschaftspolitische und ökonomische Bedingungen. Dazu zählte vor allem die drastische Spielraumverengung für die soziale Demokratie in den Krisen der Republik. Reparationslasten, Inflation und Weltwirtschaftskrise schränkten die Möglichkeiten wohlfahrtsstaatlicher Politik in einer Weise ein, welche die hochfliegenden Hoffnungen auf soziale Gerechtigkeit und Prosperität an fiskalischen Zwängen und an einer auf die Spitze getriebenen Austeritätspolitik zerschellen ließen. Ein weiterer unvorhergesehener Krisenfaktor lag darin, dass der Parlamentarismus – gerade erst mit wirklicher politischer Verantwortung ausgestattet – unter Beschuss geriet. Während sich liberale Theoretiker mühten, die Illusionen einer direkten Demokratie und die Gefahren plebiszitärer Stimmungsschwankungen zu enthüllen, verlor der Weimarer Parlamentarismus rapide an Vertrauen. Der Ruf nach einer starken Exekutive und nach einer autoritären Überwindung gesellschaftlicher Fragmentierung erschwerte daher jede Argumentation für Rationalität, Kompromiss- und Verantwortungsfähigkeit der repräsentativen Regierungsform. Trotz oder gerade aufgrund ihrer realpolitischen Marginalisierung entwickelten allerdings die liberalen Weimarer Demokraten eine bewunderungswürdige theoretische Standfestigkeit.

      Die Ideengeschichte lässt sich gewiss nicht als stringente Kette von Lernprozessen und Anpassungsleistungen verstehen. Aber die Krise der Demokratie, ihre enttäuschten Erwartungen und die politischen Niederlagen in Weimar bewirkten langfristig unstreitig eine umfassende Neujustierung liberalen Denkens. Es beinhaltete ein neues Kontingenzbewusstsein, eine Wende zur Skepsis und den geschärften Sinn für politische Gewalt. Das Wissen darum, dass demokratische Gesellschaften nicht davor gefeit sind, in zivilisatorische Regression und eine Herrschaft des Unrechts abzugleiten, prägte ein normativ erneuertes, aber zugleich realistisch gewordenes liberaldemokratisches Denken.39

      Demokratie, so die aus der fragilen Weimarer Republik gewonnene Grundeinsicht, war nur als parlamentarisch-repräsentative Regierungsform funktionsfähig, benötigte eine strikte Gewaltenteilung und durfte den Pfad der freiheitsgarantierenden Rechtsstaatlichkeit nicht verlassen. Doch darin erschöpft sich das Vermächtnis der liberalen Weimarer Demokraten nicht. Sie wussten auch, dass die demokratische Verfassung keine Existenzgarantie kennt. Hans Kelsen sah den Identitätskern der Demokratie darin, ihren Feinden nur mit Argumenten begegnen zu dürfen. Gegen eine demokratische Selbstpreisgabe gab es aus seiner Sicht kein probates Mittel.40 Diese Haltung rief bei wehrhaften Republikanern Widerspruch hervor. Aber auch sie sahen, dass Republik- und Verfassungsschutzmaßnahmen stumpfe Schwerter blieben, solange sie sich nicht auf breite Mehrheiten stützten. Kelsen hatte erkannt, dass die Demokratie ethisch autark war, also ihre Bestandsvoraussetzungen selbst erhalten und pflegen musste. Dazu braucht es die erneuerungsfähige Vision einer demokratischen Gesellschaft, die Erziehung zur Demokratie, alltägliche Einübung ihrer Praktiken, die Pflege ihrer Institutionen und die Sorge um die sozial Benachteiligten.

      Die Demokratiedebatte der Zwischenkriegszeit gehört fraglos zu den Sternstunden der politischen Ideengeschichte. In der Auseinandersetzung mit den Vordenkern der liberalen Demokratie lässt sich der existenzielle Ernst der Argumentation nachempfinden. Ihre Einsichten bleiben aktuell, weil sie uns daran erinnern, wie anspruchsvoll das Projekt der liberalen Demokratie tatsächlich ist.

      Der Rang eines Klassikers kommt demjenigen zu, dessen Werk und Thesen genug Denkanstöße liefern, die über die Zeiten hinweg Herausforderungen stellen. Das ist bei Max Weber in hohem Maße und bei anhaltender Wirksamkeit der Fall, und zwar fächerübergreifend. Soziologen, Historiker, Politikwissenschaftler, Staatsrechtler – sie alle verwenden Webersche Terminologien, arbeiten sich an den Kategorien der Herrschaftssoziologie ab, stehen im Schatten von Webers desillusionierter Entzauberung der Moderne, die im Modus von Bürokratisierung und Rationalisierung ihr „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“ errichtet hat. Weber erkannte früh, dass sich der Mensch institutionelle und technische Umwelten schuf, die die Handlungsmöglichkeiten des Individuums unentrinnbar bestimmten. Die nachfolgende zweite Soziologengeneration nannte dieses Phänomen in den Fußstapfen Webers „sekundäre Systeme“ oder „Superstrukturen“.

      Das eigentliche Faszinosum liegt darin, dass Weber zu Lebzeiten eigentlich gar kein lesbares Buch publizierte. Wer greift heute freiwillig zur Habilitation über die Römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht (1891) oder liest noch einmal mehrhundertseitige Enqueteberichte über die ostelbischen Landarbeiter (1892)? Auch das vor Begriffs- und Typenbestimmungen berstende Großwerk aus dem Nachlass Wirtschaft und Gesellschaft (1922) ist ohne Register kaum zu benutzen, weil nur wenige Leser Webers wissenschaftliche Prosa länger als zehn Seiten durchhalten. Nein, die Klassizität Webers ist nicht einem einzelnen Buch oder seiner stilistischen Brillanz geschuldet, sie liegt in der Eindringlichkeit seines Anliegens und in der Leidenschaftlichkeit seines Fragens verborgen. Weber arbeitete sich durch ungeheure Stoffmassen, versuchte sein Material durch multidimensionale Herangehensweisen zu erschließen und ließ keine einfachen Antworten gelten. Das Berserkertum seines „wühlenden Geistes“ hinterließ kein gerundetes Werk, sondern einen massiven Torso ungebändigter Gedankenfülle. Dabei war er ein Modernisierer und Organisator der Wissenschaft, dem es ungeachtet der politischen Tendenz allein darauf ankam, ob eine These gut begründet und belegt war. Bekanntheit erlangte Weber über die Aufsatzfolge zur protestantischen Ethik, die den Aufstieg des Kapitalismus aus dem asketischen Geist des Puritanismus erklärte. Auch seine späte politische Publizistik trug zur Begründung seines Ruhmes bei, denn in seinen intellektuellen Interventionen machte Weber die Erträge seiner Herrschaftssoziologie für die Überlegungen zu „Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland“ fruchtbar, während seine epochalen Reden zu „Wissenschaft“ respektive „Politik als Beruf“ bis heute ihre Frische bewahrt haben. Knapp vier Jahrzehnte mühte sich das Riesenunternehmen einer meterlangen} Gesamtausgabe, Webers Denkwege begehbar zu machen und nach allen Regeln historisch-kritischer Edition wissenschaftlich aufzubereiten. Kein Jugendbrief ging verloren, kein Bericht über einen Vortrag Webers in der Lokalpresse blieb unerwähnt.

      Seine Ausnahmestellung als universalhistorisch denkender Soziologe, der von der Landwirtschaft zum Börsenwesen, vom antiken Judentum zum Konfuzianismus, von der Musiksoziologie bis zur Wissenschaftstheorie eine ungeheure Vielfalt an Themen erforschte, ließ es lange unmöglich erscheinen, den „ganzen Weber“ ins Blickfeld zu bekommen, zumal die Widersprüche seiner vielfach gebrochenen bürgerlichen Existenz kaum ins Bild des Rationalitätsdenkers und unerbittlichen Realisten zu passen schienen. Erst der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis unternahm es in seinem Spätwerk, Max Webers Fragestellung (1987) als biographisch existentielles Problem in den Mittelpunkt zu rücken. 2005 erschien dann – acht Jahrzehnte nach Marianne Webers „Lebensbild“ ihres Gatten – die erste wissenschaftliche, wahrlich fulminante Biographie von Joachim Radkau, der eine charakterologische, psychologisch sensible und kulturgeschichtlich eingebettete Deutung Webers lieferte. Radkau machte den Olympier menschlich, leuchtete neben dem Werk die Abgründe seiner Psyche und Süchte ebenso aus wie Webers komplizierte erotische Natur zwischen Kameradschaftsehe und späten erfüllenden Liebesaffären.

      In Webers Lebensspanne fiel die Sturzgeburt der Industriemoderne in Deutschland. Die groß- und bildungsbürgerlichen Werte, die seine Erziehung prägten, verloren in einem nervösen Zeitalter des Wandels rasch ihre Orientierungskraft. Weber litt zwar an der Krise des Bürgertums, das trotz seiner ökonomischen Machtstellung im Kaiserreich in politischer Passivität verharrte. Aber er beließ es keineswegs beim Ressentiment – wiewohl er als junger Mann mit der politischen Rechten flirtete und dem nationalistischen Alldeutschen Verband eine Zeit lang angehörte –, sondern stand auf dem Boden der Moderne. Er knüpfte enge Bande mit führenden linksliberalen Köpfen wie Friedrich Naumann und Lujo Brentano, um sich für politische und gesellschaftliche Modernisierung einzusetzen. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges riss ihn die patriotische Welle zunächst mit, aber Weber ernüchterte schnell und gehörte bald zu den wichtigsten Kritikern der Monarchie, prangerte ausufernde Kriegsziele an und setzte sich für Parlamentarisierung und Demokratisierung ein. Als prominenter Beiträger der Frankfurter Zeitung, Mitbegründer der liberalen DDP und Vordenker der Weimarer


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