Die Farbe von Jade. Luzia Schupp-Maurer
fühlte sich eingesperrt und bekam wieder Angst. Sie setzte sich auf den nackten Boden und wartete. Erst nach Stunden kam der Mann wieder, mit einer Schale Reis, einer Fischsoße und einer Flasche Wasser und einem Eimer. Der Eimer schien für die Notdurft zu sein, zumindest machte der Mann solche Andeutungen. Kurz darauf war er wieder weg.
Die Zeit verging quälend langsam. Irgendwann schlich die Nacht heran. San Youn konnte nicht schlafen, es gab keine Grillen, es roch nicht nach Wald. Stattdessen drang von draußen Straßenlärm herein. Der Steinboden war kälter als jedes Holz und jede Bastmatte. Die Stunden krochen zäh dahin. Vielleicht würde sie hier in der Stadt einen Europäer treffen, der ihr sagen konnte, wie sie nach Europa gelangen könnte. Und in Europa würde sie sich dann im Wald eine Hütte bauen und Reis pflanzen. Vielleicht gab es dort keine Soldaten, weil die Soldaten vor ein paar Jahren hierher, nach Birma gegangen waren. Vielleicht war Europa ein friedliches Land. So träumte San Youn vor sich hin, um sich von ihrer Angst abzulenken. Jetzt würde sicher alles gut werden.
Wo bist du? Ich suche dich in meiner Wohnung, in meinem Kopf, in meinem Herzen. Alles, was ich finde, ist Sehnsucht. Ich kenne dich so wenig, so flüchtig. Es war so plötzlich, dass du da warst in meinem Leben, stelltest dort alles auf den Kopf, und genauso plötzlich warst du wieder fort. Ich suche nach deinen Spuren, suche in meiner Küche, auf meiner Haut, in jedem Gesicht, das mir auf der Straße begegnet. Ich will dich auch im Rest der Welt suchen gehen. Wenn ich nur wüsste, wo du bist, wenn ich nur wüsste, ob du noch lebst. Dann könnte ich dich holen kommen. Oder könnte wenigstens um dich trauern. So aber weiß ich nicht, wo ich anfangen kann, dich zu suchen.
Bremen, Deutschland, Januar 2006
Lea warf sich auf ihren Küchenstuhl. Wie konnte sie nur so blöd sein! Einer völlig fremden Frau eine romantische Postkarte schreiben mit fast einer Liebeserklärung, obwohl die Wahrscheinlichkeit groß war, dass sie verheiratet war oder zumindest mit einem Mann zusammenlebte. Womöglich noch mit diesem Bullen. Lea stand auf und holte die Karte aus ihrer Jackentasche. Sie schaute den Elefanten an. Das Bild der Haut dieser Frau kam ihr in den Sinn, ihr Hals, der kleine Anhänger aus Stein auf ihrer Brust. Ihr Duft stieg in Lea auf und umhüllte sie, stärker als bei der realen Begegnung. In der kalten Luft hatte sie ihn kaum bemerkt, hatte nur einen flüchtigen Hauch wahrgenommen. Warm, tief und geheimnisvoll. Wie aus einer Welt, die Lea nicht kannte, die groß war, größer als sie es sich vorstellen konnte. Lea schluckte eine Träne herunter. Es war Spinnerei. Nichts als Spinnerei. Sie riss die Karte in der Mitte durch. Derselbe Riss zog sich mit dem scharfen Geräusch des aufreißenden Papiers durch ihr Herz.
Sie ließ sich wieder auf den Küchenstuhl fallen, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und vergrub ihr Gesicht in ihrer Armbeuge. Enttäuschung bedeutet, dass die Täuschung aufhört. Sie schlug mit der Faust auf den Tisch. Es war so eine schöne Täuschung. Lea legte die beiden Postkartenhälften zusammen. Jetzt war der Elefant schief, hatte eine große Narbe im Gesicht. Wieder blickte sie an dem Hals der Frau herab, hörte ihre leise Stimme, sah in ihre unergründlichen dunklen Augen, das Gesicht umrahmt von schwarzen Haaren, die braune Strickjacke, die sie mit den Armen geschlossen hielt. Es wäre besser, wenn Lea ihren Einsatzort wechseln würde. Abstand täte ihr jetzt sicher gut. Doch warum sollte sie ihren Einsatzort, den sie doch so gerne mochte, tauschen? Das war doch albern. Sie betrachtete den kaputten Elefanten. »Wie eine Gazelle in der Nacht«, wiederholte sie ihre eigenen Worte, »Kaum vermutet und schon weg … Schade.«
Lea tauschte ihren Einsatzort nicht. Sie wollte weiterhin jeden Tag Blumen sehen und Stroh und Kühe riechen. Kühe, die gelassen vor sich hin kauten – ohne irgendwelche dummen Briefe zu schreiben. Das besagte Haus zu ignorieren, gelang ihr freilich nicht. Sie hoffte nur, dass sich das bald ändern würde. Die Frau stand wieder am Fenster, kam jetzt regelmäßig zur Tür. Sie nahm die Post persönlich entgegen, sobald sie Lea bemerkte. Sogar Tee hatte sie vorbereitet und brachte eine kleine Tasse an die Tür. Lea fand das rührend und musste all ihre Kraft aufbringen, ihre Emotionen und ihre dummen, kleinen Vorstellungen unter Kontrolle zu halten. Nicht flirten! Keine Komplimente! Nüchternheit, Nüchternheit, Nüchternheit!
Eines Tages schien die Frau wie verändert. Ihr Blick haftete erwartungsvoll an Lea und ihre Hände zitterten. Es waren schöne Hände. Lange Finger, ausgeprägte Knöchel.
»Ist was Besonderes?«
Die Frau senkte nur den Kopf. »Es ist nichts.« Als sie jedoch den Kopf wieder hob, schaute sie Lea mit einem Blick an, der Bände sprach. Lea wusste nur nicht welche.
»Ich weiß zwar noch nicht, wie Sie heißen«, sagte sie, »aber ich kenne Sie schon lange genug, um zu sehen, dass etwas geschehen ist.«
Für einen Moment schauten sie sich in die Augen. Lea hatte den Eindruck, in einem tiefen Braungrün zu versinken. Dann blickte die Frau sich um, als wolle sie sichergehen, dass niemand sie belauschte oder sah.
»Ich muss noch ein paar Briefe austragen«, sagte Lea. »Ich brauche noch ungefähr eine Stunde. Ich kann noch einmal wiederkommen. Dann hab’ ich mehr Zeit.«
Die Frau schaute auf die Uhr und nickte.
»Ich beeil mich. Bis gleich dann.«
Lea griff nach ihrem Postrad. Sie überschlug sich fast in ihrer Eile. Zwischen den Bauernhöfen trat sie in die Pedale, als sei eine wildgewordene Kuh hinter ihr her. Dabei war die einzige Kuh, die hier unterwegs war, jene komische Kuh auf einem Rad, die noch dazu dumme Nachrichten auf Postkarten schrieb. Die Hunde auf den Höfen bellten, sie waren es nicht gewöhnt, dass Lea so rannte. Das Rad ratterte über die Wege und sie hatte den Eindruck, kaum vorwärts zu kommen. Was würde die Frau ihr gleich erzählen? Leas Herz hämmerte, als hätte sie eine riesige Prüfung vor sich. Als würde gleich der Vorhang aufgehen und sie auf einer unbekannten Bühne stehen und eine ihr bisher noch unbekannte Rolle spielen müssen vor einem Millionenpublikum. Naja, vor zwei Menschen, vor denen sie jetzt gerade nicht scheitern wollte: sie selbst und diese Frau.
Nachdem sie endlich ihre Tour beendet hatte und alles erledigt war, eilte sie aus dem Postgebäude, hinunter zur Ecke, bog ab, überquerte die Straße. Ein Auto bremste gerade noch rechtzeitig, Lea stolperte und fiel, sprang sofort wieder auf. Ein Mann schnauzte sie durch das Seitenfenster an, stieg aus.
»Tschuldigung«, rief Lea gehetzt, »Meine Schuld! Alles in Ordnung, hab ’s furchtbar eilig!« Lea lief wieder los und ließ den schimpfenden Mann zurück. Mist, sie hatte sich die Hand aufgeschürft. Erst als sie kurz vor dem Haus war, wurde sie langsam. Sie wollte erst zu Atem kommen, kontrollierte ihre Hand. Sie blutete ein klein wenig. Schmutz hatte sich in die Haut gesetzt. Die Wunde brannte. Egal. Atmen, ruhig werden, klingeln.
Die Frau öffnete und Lea musste an sich halten, sie nicht zu umarmen. Sie folgte ihr ins Haus, während ihr Blick die Frau betrachtete, ihre zierliche Gestalt, ihren leisen Gang, wie sie wieder mit den Armen ihre Strickjacke um sich geschlungen hielt. Das Wohnzimmer war ein aufgeräumter weißer Raum mit hellem Teppich und den zugezogenen langen Gardinen. Der Tisch war gedeckt und es stand duftender Reis darauf und eine Schale mit köstlich aussehendem Curry. Daneben standen ein Korb mit in Streifen geschnittenem selbstgemachtem Fladenbrot und ein Schälchen mit gewürztem Joghurt. Das Essen roch köstlich orientalisch.
Die Frau bat sie zu Tisch. »Entschuldigung. Nicht Zeit zu kochen.«
Lea staunte nicht schlecht. Da stand eine Königsmahlzeit und die Frau behauptete ernsthaft, sie hätte keine Zeit gehabt, richtig zu kochen. Was würde sie erst an Festtagen zubereiten? Kandierten Elefanten versteckt in selbstgefangenem Dinosaurier-Sauerbraten mit Edelweiß-Pastetenmantel? Lea kam sich plötzlich vor, wie ein dummes, faules Küken. »Sie müssen doch nicht für mich kochen. Das wäre doch nicht nötig gewesen.«
»Natürlich gibt es Essen. Wenn Besuch, dann essen.«
Ja, natürlich. Lea selbst hätte einfach einen Kaffee gemacht. Sie schämte sich ein wenig. Vielleicht war diese Person doch eine Liga zu hoch für sie. »Ist ihr Mann nicht da?«, fragte