Die Farbe von Jade. Luzia Schupp-Maurer

Die Farbe von Jade - Luzia Schupp-Maurer


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Junge machte das Falsche. Er schlug, anstatt zu treten, denn ihm ging langsam die Kraft aus und der Sack hing ziemlich hoch. Er bekam eine deftige Ohrfeige und musste unzählige Liegestütze machen, bis seine Arme zusammenbrachen. Danach musste er erneut zum Sack, im Sprung treten und sich anschließend bei dem Soldaten bedanken.

      San Youn versuchte, die Befehle so gut wie möglich zu verstehen und zu befolgen. Da sie noch recht schwach war, musste sie an diesem Tag nicht das gesamte Training mitmachen. Erst am nächsten Tag, nach einer Nacht, die sie dicht gedrängt auf dem Schlaflager verbracht hatte, begann für San Youn das volle Programm. Während unweit die älteren Kinder und die Erwachsenen Schießübungen machten, wurde für die Jüngeren ein Feuer angezündet. Sie mussten mit ihren Gewehren und lauten Schreien darüber springen, sich gegenseitig mit Schlägen traktieren, um den Körper und den Geist hart zu machen. Sie übten, sich anzuschleichen und sich zu verstecken und wer zu leicht gefunden wurde, bekam einen Schlag mit einer Rute. Es gab Übungen, bei denen einer allein gegen fünf Gegner kämpfen musste. Jeder war mal dran. Die Gruppe schlug mit mäßig starken Schlägen auf das Opfer ein. Das Opfer musste sich wehren, so gut es ging. Mit Händen und Füßen, mit kleinen Stöckchen, die Messer darstellten. Für San Youn, die sich fast noch nie geprügelt hatte und die die anderen Kinder noch nicht kannte, war das schlimm. Als sie sich zusammenkauerte, um den Schlägen möglichst wenig Fläche zu bieten, musste sie feststellen, dass sie nicht aufhörten, und Schläge und Tritte prasselten unentwegt auf sie ein. Der Soldat, der daneben stand, schrie ihr etwas zu. Sie solle aufstehen und kämpfen. San Youn traute sich nicht, die Hände vom Gesicht zu nehmen und ihren Körper aufzurichten und dadurch zu öffnen. Einige Kinder hielten unschlüssig inne. »Weiter«, schrie der Soldat sie an, »sie muss lernen, zu kämpfen. Sonst ist sie eine Gefahr für sich selbst und für uns alle. Weiter! Bis sie aufsteht und kämpft!« Als die Schläge nicht aufhörten, stürzte sich San Youn in voller Verzweiflung nach vorn gegen ein tretendes Bein, packte es und stieß mit ihrer Schulter dagegen. Der Junge fiel. Ein Tritt traf San Youn am Kopf. Als der gefallene Junge aufstehen wollte, stürzte sie sich erneut auf ihn und sie fielen gemeinsam wieder hin. San Youn drehte sich im Fallen so, dass der größere Junge auf sie drauf fiel. Sie packte seinen Kopf von hinten und legte ihren Arm um seinen Hals. Während sie ihn würgte, benutzte sie seinen Körper als Schutzschild gegen die Tritte. Fest griff sie zu, bis der Junge röchelte und kurz darauf still wurde. Der Soldat schrie: »Stopp, aufhören! Das reicht!« Die Kinder sprangen auseinander. »Loslassen!«, brüllte der Soldat und jetzt erst ließ San Youn den Jungen los und kroch unter ihm hervor. Der Mann ohrfeigte den Jungen, der sich nicht mehr bewegte. Nochmal und nochmal, dann schüttelte er ihn. Der Junge öffnete benommen seine Augen. Er brauchte eine Weile, bis er aufstehen konnte. »Na also«, rief der Soldat, »geht doch. Nur musst du bei den Übungen nicht gleich deine Kameraden töten. Lass sie das nächste Mal am Leben und bewahre dein Feuer, bis du dem Feind begegnest. Selbstbeherrschung und Besinnung sind genauso wichtig wie Gehorsam, hörst du?«

      Damit waren die Kinder entlassen und das Training beendet. Der Junge, den San Youn besiegt hatte, obwohl er größer war als sie, schaute sie böse an und spuckte auf den Boden. Die Kinder gingen auseinander. San Youn war sich nicht sicher, ob sie sich Respekt verschafft oder den Hass der Kinder zugezogen hatte. Dem Jungen versuchte sie so gut es ging aus dem Weg zu gehen. Sie fürchtete sich vor seiner Rache.

      San Youn fühlte sich schrecklich allein. Die Kinder befreundeten sich kaum untereinander und es gab niemanden, dem sie vertraute. Inständig hoffte sie, hier bald wieder wegzukönnen. Doch wo sollte sie hin? Sie bekam mehr und mehr das Gefühl, dass man hier nicht weglaufen durfte. Man würde sie bestimmt suchen und bestrafen. Das strenge Regelwerk in der Gruppe, die Befehle, das Schweigen, die Uniformen und die Waffen sperrten sie in einen unsichtbaren Kerker und legten ihr unsichtbare Ketten an. Die Angst, bestraft zu werden, fesselte ihren Geist und versiegelte den Kerker.

      Nach einem Abendessen beobachtete San Youn, wie ein Mädchen von einem Soldaten einen Befehl zugeflüstert bekam. Sie war ungefähr elf Jahre alt. Das Mädchen hörte sofort auf, den restlichen Reis aus ihrer Schale zu sammeln und bewegte sich nicht mehr. Der Soldat stieß sie an: »Na los.« Er nickte in die Richtung des großen Zeltes. Das Mädchen stellte die Reisschale weg und stand auf. Langsam ging sie auf das Zelt zu. Vor dem Zelt saß der Kommandant der Guerillagruppe und rauchte. Er winkte das Mädchen heran. Sie zauderte, der Kommandant winkte erneut und sagte etwas. Zaghaft trat sie zu ihm. Der Mann legte seinen Arm um ihre Hüfte und hielt ihr die Pfeife an den Mund. Das Mädchen hustete und keuchte und der Anführer lachte leise. Ein Soldat kam zum Zelt, blieb stehen, ließ sich die Pfeife reichen und zog. Den Blick hielt er dabei auf das Mädchen gerichtet. Der Kommandant erhob sich und schob das Mädchen ins Zelt. Der Soldat folgte ihnen.

      San Youn fühlte sich komisch. Sie verstand nicht, was da passierte, obwohl sie eine vage Vermutung hatte. Angst pochte in ihren Ohren. Hier war sie bei den Karen. Das waren doch die guten Soldaten, die so etwas nicht taten. Sie irrte sich sicher und das Mädchen bekam nur etwas Wichtiges gesagt. San Youn wurde angestoßen. Sie musste aufräumen helfen, das Lager ausfegen, ein Pulver um das Lager herum ausstreuen, das Schlangen und Skorpione fernhalten sollte. Das Mädchen ging ihr nicht aus dem Kopf. Es wurde dunkel und die Kinder legten sich auf ihr Lager, Seite an Seite, dicht gedrängt. Das Nachtlied des Waldes begann. San Youn lauschte, ob sie aus dem Zelt etwas hören konnte. Doch da waren nur das Zirpen der Grillen, die leisen Stimmen einiger Soldaten, sonst nichts. Nichts, was sie irgendwie erkennen und verstehen konnte. Bald überwältigte ihre Müdigkeit die würgenden Zweifel und sie schlief ein.

      Am nächsten Morgen stand das Mädchen, das San Youn am Vorabend beobachtet hatte, wie jeden Tag mit den Kindern in dem sich langsam hebenden Frühnebel auf. Ihr Gesicht war blass und unbewegt. Vielleicht war alles nur ein schlechter Traum gewesen, belog sich San Youn. Sie erinnerte sich an ihren eigenen schlimmen Traum der letzten Nacht. Ihre Mutter hatte mit Thanaka überall Gewehre an die Wände der Hütte gemalt, dann kamen Maden aus den Wänden. San Youn hatte sich nicht zu weinen getraut, als sie aufgewacht war. Mi Mi hatte gesagt, wenn man Opium rauche, bekäme man Albträume. Auch San Youn war schon einmal eine Pfeife angeboten worden. Sie hatte vorsichtig so getan, als ob sie es inhalierte, aber darauf geachtet, den komisch schmeckenden Rauch nicht in die Lunge zu ziehen. Sie hatte ihn im Mund behalten und dann langsam ausgeblasen. So war es keinem aufgefallen, dass sie nicht echt geraucht hatte. Trotzdem war ihr schwindelig und komisch geworden. Seither war es ihr gelungen, sich an der Pfeife oder den Schlafmohnzigaretten vorbeizudrücken. Genauso machte sie es jetzt auch mit den seltsamen Tabletten, die sie immer heimlich ausspuckte. San Youn hatte Angst, man könne ihren Betrug erkennen. Hier rauchten alle und alle nahmen diese Pillen. Vielleicht waren deshalb die Menschen hier so eigenartig. Sie sagten, dass es gut sei. Es mache sie ruhig und mutig. Es helfe zu schlafen nach der anstrengenden Arbeit und es helfe gegen Angst.

      San Youn wollte gern, dass auch ihre Angst aufhörte. Aber Mi Mi wäre dann böse. Sie hatte gesagt, wirklich Erwachsene würden nicht rauchen, weil sie wüssten, dass es ihnen nicht guttue. Denn Erwachsensein bedeute, dass man Verantwortung für das Leben übernähme. Vielleicht käme Mi Mi ja doch zurück und holte sie nach Hause. Vielleicht hatte ihr Geist nur für kurze Zeit ihren Körper verlassen. San Youn hatte furchtbares Heimweh. Das Rauchen würde auch gegen Heimweh helfen, sagte man ihr. Niemand hier hatte mehr Heimweh. San Youn fragte den Elefanten auf ihrer Brust, denn er würde alles sehen, was sie tat, und würde es der Mutter sagen. Vielleicht war der Geist der Mutter selbst da drin, in dem Stein, und beobachtete sie.

      Der Elefant sagte, sie solle nicht rauchen. Denn dadurch würde sie ihre Seele verlieren. Auch wenn die Seele jetzt wehtat – ihr Heimweh und ihre Angst zeigten ihr, dass sie noch lebte. Das war eine Antwort, die nur Mi Mi gegeben hätte. Sie musste wirklich in dem Stein sein.

      Obwohl die Soldaten Gewehre hatten und schossen, obwohl Mi Mi sagte, das würde die Seele kaputtmachen, hatten die Soldaten Stärke. Je älter sie wurden, desto stärker wurden sie, denn hier war man jemand. Hier war man wichtig und bekam eine Aufgabe. Die Leute hier sagten, dass es ihrem Leben einen Sinn gäbe. Sie wären nicht mehr nur hilflose Opfer. Sie würden das Land befreien und dann wäre endlich Frieden. Mi Mi hätte etwas anderes gesagt. Dass Frieden so nicht geht. Dass Frieden kein Ziel ist, sondern ein Weg. Hier sagte man, dass durch stilles Leiden kein Frieden käme. Sie sagten, dass es nicht friedlicher wäre, nur weil Mi Mi jetzt tot war.


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