Die Farbe von Jade. Luzia Schupp-Maurer
Geräusch zu machen, hielt sich dann wieder die Ohren zu. Erst als sich deutlich die Schatten verändert hatten, wagte sie es, ihre Hände von den Ohren zu nehmen. Ganz langsam wagte sie es schließlich, sich aus dem Dickicht zu erheben. Zaghaft begab sie sich auf den Heimweg, langsam, nach jedem Schritt ängstlich lauschend. Es dauerte lange, bis sie wieder den Waldrand und das Feld erreichte.
Mi Mi und Aung Ni lagen reglos auf dem Feld in der goldenen Abenddämmerung.
Erst in der hereingebrochenen Dunkelheit wagte San Youn sich auf das freie Feld. Zuerst kam sie zu ihrem Bruder. »Aung Ni?« Aber Aung Ni reagierte nicht, als sie ihn leise ansprach. Sie fasste ihn an. Ein entsetzter Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Er war kalt. Kälter, als wenn er aus dem Wasser kam. Eilig rannte sie zur Mutter. Mi Mi war nackt, ihre Bluse und ihr Longyi lagen ein paar Meter entfernt, zerrissen, die einst leuchtenden Farben von Schlamm bedeckt. Sie war auch kalt und seltsam steif. San Youn klammerte sich an ihren Körper, der sich plötzlich ganz fremd anfühlte. Sie schrak zurück. »Mi Mi? Mi Mi?« Doch ihre Stimme gehorchte ihr nicht. San Youn wollte weinen, doch vergeblich, ihre Augen blieben trocken, wollten nicht dieses plötzliche Übermaß an Schmerz hinausspülen. Wie in Trance deckte sie notdürftig die Mutter mit den Fetzen ihrer Kleider zu. Dann durchfuhr sie ein neuer Schreck. Menschen wurden zu bösen Geistern, wenn sie gewaltsam starben. Sie hatte nie geglaubt, dass Mi Mi zu einem bösen Geist werden könnte. Aber jetzt war sie kalt und roch nicht mehr nach sich selbst. Jetzt war sie wirklich ein Geist geworden. Man würde ihn verscheuchen müssen. San Youn wollte das nicht, aber sie musste. Mi Mi und auch Aung Ni würden jetzt sehr zornige Geister sein, denn sie waren gewaltsam gestorben. Und San Youn war einfach weggelaufen. Sie würden hier über das Feld schweifen und sie vielleicht suchen, weil sie nicht auf das Feld gekommen war, um zu helfen. Sie würden das ganze Dorf unsicher machen. Aber niemand kam, um sie mit Lärm zu vertreiben. Und sie selbst durfte jetzt nicht laut sein. Vielleicht waren noch Soldaten in der Nähe. San Youn lief zwischen Mi Mi und Aung Ni hin und her und machte mit ihren Armen wilde und abwehrende Bewegungen, um ihre Geister fortzuschicken.
Der Wald umher sprach nun zu ihr. Die Bäume redeten auf sie ein, aber San Youn verstand nicht, was sie sagten. Wie von Sinnen lief sie umher und fuchtelte wild mit den Armen. Die Bäume flüsterten lauter. Alle durcheinander, dass es in San Youns Kopf dröhnte. Überall meinte sie, Schritte zu hören. Die Soldaten kamen sicher zurück und die beiden Geister würden sich auf sie stürzen. Sie musste hier weg. Gab es das Dorf denn noch? Waren da noch die Menschen? Oder waren dort jetzt die Soldaten? Das Flüstern des Waldes schwoll zu einem Brüllen an. Vor dem Wald hatte sie nun panische Angst. Doch wo konnte sie hin, wo sollte sie sich dann verstecken? Der Wald war die einzige Möglichkeit. Der Wald sagte ihr das, drohend, und der Stein auf ihrer Brust sagte das auch. Der Elefant aus Jade. Doch wollte sie die Geister hier nicht alleine auf dem Feld zurücklassen. Sie sollten das Dorf in Frieden lassen. Und sie sollten aufhören, böse zu sein, sollten ihren Frieden und ihre neue Inkarnation finden. San Youn hielt in ihren wilden Bewegungen inne. So würde sie es kaum schaffen, die Geister zu vertreiben oder zu beruhigen. Nicht die der Toten und nicht die des Waldes und des Feldes. Sie hatte nichts, was sie opfern konnte. Also nahm sie ihr Messer und schnitt sich in hastigen, groben Bewegungen das Haar ab. Sie versuchte, so viel wie möglich abzuschneiden. Sonst hatte sie nichts. Ein dickes Haarbüschel legte sie ihrer Mutter in die rechte Hand, ein weiteres ihrem Bruder. Ob das so richtig war, wusste sie nicht. Es war der Elefant auf ihrer Brust, der ihr dazu riet, also tat sie es, trotz ihrer Angst. Den Rest ihrer Haare streute sie in den Wind. Dann breitete sie die Arme aus und sprach mit erstickter Stimme: »Hier bin ich. Ich habe nichts, was ich euch geben kann, außer mich selbst. Ich bin in eurer Hand. Helft mir oder zerstört mich.« Wie in Trance wandte sie sich von ihrer Mutter und Aung Ni ab, ging in den Wald hinein. In ihrem Kopf und in ihrer Brust breitete sich kalte Leere aus.
Im Wald war es erbarmungslos dunkel. Eine Dunkelheit, wie San Youn sie noch nie erlebt hatte. Nicht nur, weil sie noch nie nachts in den Wald gegangen war, sondern auch wegen der zornigen Geister, die es noch dunkler und bedrohlicher erscheinen ließen. Mit einer lähmenden Angst in der Brust tastete sie sich wie eine Schlafwandlerin durch den Wald mit seinen Baumriesen, den hohen Brettwurzeln und den unzähligen dichten Lianen, die die Baumstämme umgaben, sich um sie wanden und aus der Höhe von deren Zweigen herabwuchsen.
Ein paar Tage würde sie sich verstecken müssen. Sie durfte nicht sofort zurück. Ob wohl das ganze Dorf zerstört war? Vielleicht war es nur ein kleiner Überfall von ein paar Soldaten gewesen, die zufällig in der Nähe waren. Vielleicht würde Mi Mi auch wieder warm werden, vielleicht …?
San Youn wusste, dass sie sich da selbst kindisch belog. Sie hoffte nur inständig, dass sie ihre Schwestern finden würde. Und wenn sie sie nicht fand? Wenn sie noch lebten, waren sie vielleicht bei den Tatmadaw, den Regierungssoldaten. Von denen musste San Youn sich auf jeden Fall fern halten, denn die würden mit ihr das tun, was sie mit der Mutter getan hatten. Ob hingegen die Geister des Waldes sie lange schützen würden, das wusste sie auch nicht. Sie musste nachdenken, musste klug sein wie ihre Mutter. Jetzt, wo sie allein war, musste sie ganz erwachsen sein. Hier war sie nicht mehr die Jüngste, sondern die Einzige. Sie konnte nicht länger die kleine, die Mi San Youn sein, von jetzt an musste sie Ni San Youn sein, die starke San Youn.
Um vor Kriech- und Raubtieren wenigstens ein wenig sicherer zu sein, kletterte sie auf einen abgebrochenen, morschen Baum und klemmte sich so zwischen die holzigen Lianen, dass sie nicht herunterfallen konnte. Dort auf dem Baum fiel sie in einen halbschlafähnlichen Zustand. Ob sie schlief oder wachte, wusste sie nicht. Sie sah und hörte nichts mehr. Der Wald um sie herum lebte und deckte sie mit seinen tausend Stimmen zu.
Irgendwann erwachte im aufsteigenden Nebel der Tag-Wald und der Nacht-Wald ging zur Ruhe. San Youn kletterte aus ihrem Versteck. Sie war durstig. Wasser, sie musste Wasser finden. Während sie umherstreifte, las sie Raupen, Ameisen, Grillen und Samen auf und steckte sie sich in den Mund. Als sie einen Bach fand, trank sie gierig. San Youn versuchte, die Wunden an ihren Füßen auszuwaschen, die Wurzeln und Dornen bei ihrer unachtsamen Flucht hineingerissen hatten, zog kleine Holzsplitter aus der Haut und spuckte auf die wunden Stellen, um sie ein wenig zu desinfizieren. In der Nähe des Baches hielt sie nach einem Versteck Ausschau, das ihr den bestmöglichen Schutz bot. Sie fand eine enge Höhle im Hohlraum eines älteren Banyan, einer Würgefeige. Dieser Baum bestand aus dichten Wurzeln, die bis in den Himmel aufragten und einst einen anderen Baum umschlungen hatten, bis dieser abgestorben war. Nun war der einstige Baum in der Mitte verrottet und der Innenraum, den die Feigenwurzeln umschlangen, war leer. Farne und andere Pflanzen umwucherten das Wurzelgerüst. San Youn kroch halb hinein und wischte mit einem Stock die Spinnweben herunter, suchte die Wurzelhöhle nach Giftspinnen und Schlangen ab. Sehr sicher war dieses Versteck nicht, aber auf dem Boden zu schlafen, war wegen der Skorpione noch gefährlicher. Die Angst schnürte sich wie eine Schlinge um ihren Hals. Sie musste jetzt tapfer sein. Bisher hatte sie überlebt. Sie wollte nicht sterben, doch wenn es so käme, dann lieber durch eine Schlange als durch die Soldaten. Aus einem Dickicht schnitt sie in mühseliger und kraftraubender Arbeit ein paar Zweige und Lianen und flocht sie als eine Art Hüttenboden waagerecht in den Hohlraum der Feige. Um das Versteck zu tarnen, stopfte und klemmte sie Farne und belaubte Zweige in die Lücken der Wurzelwand. Mechanisch verrichtete San Youns Körper die Arbeit, mechanisch stellte sie ihre Überlegungen an. Ihre Seele war nicht anwesend. Sie musste auf dem Feld zurückgeblieben oder im Wald verloren gegangen sein.
Ihre Spuren, die zu diesem Versteck führten, versuchte San Youn zu verwischen. Sie kletterte hinein und dann begann das Warten. Sie lauschte, ob sie Menschen hörte. Ihre Schwestern oder Soldaten. Lauschte dem Schreien verborgener Tiere, horchte auf das Knistern und Summen der Insekten und das leise Fallen einzelner Blätter. Versuchte, aus den zahllosen Gerüchen des Waldes, die Tag und Nacht wechselten, eine Botschaft zu lesen, frisch, modrig, scharf, süßlich. Gelegentlich flogen Schmetterlinge vorbei, bunt und formenreich. Bei jedem Schmetterling fragte sie sich, ob er ein Bote war, ein Bote ihrer Schwestern. Denn diese hatten ihr erzählt, dass Schmetterlinge gute Nachrichten überbringen konnten. Doch keiner kam zu ihr ins Versteck.
Am nächsten Tag waren Hunger und Durst so groß, dass sie hinauskriechen musste. Sie trank vom Bach, suchte zum Essen unter der Erde liegende Sprossen und Triebe und Früchte, die Affen fallengelassen hatten. Bei jedem Geräusch, bei jedem