Die Farbe von Jade. Luzia Schupp-Maurer

Die Farbe von Jade - Luzia Schupp-Maurer


Скачать книгу
sich verlegen zu einer Halbglatze zurückgezogen. Dafür versuchte ein schmaler Bartstreifen über Unterkiefer, Kinn und Oberlippe, kokett oder zumindest jung zu wirken, unterstützt von einer schmalen Brille. Er arbeitete bei der Polizei und angeblich war er unter seinen Kollegen sehr beliebt. Das wusste Lea unfreiwillig von einem Nachbarn, den sie mal unverhofft an der Tür getroffen hatte und der gerne zeigte, wie viel er wusste. »Der Starrenberg drückt gern mal das ein oder andere Auge zu bei Kollegen«, hatte er ihr im Verschwörerton verraten, »und liest so ’ne ganz bestimmte erotische Literatur.« Während er dies sagte, hatte der Nachbar mehrmals hintereinander grinsend die Augenbrauen hochgezogen. Er fahre auch immer allein in Urlaub, was er da wohl so mache, ts ts ts. Was andere Leute im Urlaub machten, interessierte Lea nicht. Wahrscheinlich Urlaub. Das bot sich jedenfalls an. Ansonsten wirkte Starrenberg unscheinbar, ordentlich, und war nicht oft zu Hause, wenn die Post kam. Ein Typ, der anscheinend gern allein war und das auch zeigte.

      Starrenberg begrüßte sie höflich, als er zum Tor kam, um es zu öffnen.

      »Guten Tag«, sagte Lea, »sagen Sie, haben Sie neuerdings Mitbewohner?«

      »Warum?«

      »Nun, weil seit einigen Wochen ständig jemand hinter ihrer Gardine zu stehen scheint und mich beobachtet. Zumindest sieht es so aus.«

      Starrenberg schaute sie ausdruckslos an.

      »Ich meine, ich hab’ mich nur gewundert.«

      Starrenberg lachte schmallippig. »Ja, das glaube ich. Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ich habe eine Haushaltshilfe.«

      »Ach so. Ja. Hab’ mich nur gewundert, dass die Post nicht angenommen wird, wenn schon jemand da ist. Aber das geht mich ja nichts an.«

      Herr Starrenberg nickte. »Jaja. Die Frau ist etwas ängstlich. Hat ’n paar unangenehme Erfahrungen gemacht.«

      »Muss ja schon was Ernsteres gewesen sein.« Sie schaute zu den Fenstern hinüber.

      »Seien Sie nicht so neugierig. Mehr kann ich ihnen eh nicht sagen.«

      »Na klar.« Lea verabschiedete sich mit einem knappen Gruß.

      Wenn sie nun vor dem Haus stand und die Post brachte, nickte sie freundlich zum Fenster hinüber. Tag für Tag stand die Frau hinter der Gardine. Seltsam kam Lea das Verhalten allerdings schon vor. Lea winkte, aber nur flüchtig. Sie vermutete, dass diese Frau entsetzlich einsam war, sonst würde sie sicher nicht jeden Tag hier am Fenster stehen und heimlich hinausspähen.

      Irgendwann beschloss sie, der Frau eine kleine Freude zu machen. Immerhin beobachteten sie sich seit Wochen gegenseitig. Lea besorgte eine Postkarte mit Sonnenblumen. »Die Welt ist voller Schönheit. Ich hoffe, dass Sie die Sonne bald wiedersehen können. Lea, die Ihnen die Post bringt.« Vor dem Tor angekommen, schaute sie wieder nach dem Fenster, klapperte mit dem Briefkastendeckel. Kurz darauf bewegte sich die Gardine. Lea winkte mit der Karte. Warum hatte die Frau immer noch Angst vor ihr? Sie sollte sie doch inzwischen kennen. Lea zeigte auf sich, dann auf die Karte, dann auf das Fenster. Die Gardine wurde ein Stück zurückgeschoben und ein halbes Gesicht lugte durch den Spalt. Es gehörte zu einer Frau mit rabenschwarzen Haaren, dunklen Augen und einem Blick, der Lea durch Mark und Bein ging. Lea konnte die Bedeutung dieses Blickes nicht einordnen. Es lag nicht nur Verwunderung darin, auch Traurigkeit, doch vor allem – grenzenlose Sehnsucht. Lea ließ unwillkürlich die Hand mit der Postkarte sinken. Dieser Blick war tief und intensiv. Erneut hob Lea die Karte, um sie nun endlich in den Briefkasten fallen zu lassen. Da erschien die Hand der Frau am Fenster. Sie machte eine abwehrende Geste, als würde sie ihr sagen wollen, dass sie dies auf keinen Fall tun sollte. Jetzt löste die Frau den durchdringenden Blick von Lea und schaute suchend an ihr vorbei. Warum durfte Lea die Karte nicht einwerfen? Das war sicher ein Missverständnis. Eine Postkarte konnte wohl niemanden umbringen. Lea warf die Karte ein. Hinter der Scheibe legte die Frau erschrocken die Hand auf ihren Mund. Lea musste sich zwingen, sich umzudrehen und wegzugehen, denn die Frau hielt ihren Blick fest. Als Lea sich noch einmal umdrehte, war da noch das halbe Gesicht hinter dem Glas, unergründlich, sorgenvoll und unglaublich schön.

      Lea konnte die halbe Nacht nicht schlafen. Immer wieder kam ihr dieser Blick in den Sinn und jagte einen Schauer über ihren Rücken. Es hatte eine so tiefe Verzweiflung darin gelegen. Eine Botschaft, eine Frage? Sie wusste es nicht genau.

      Die ganze nächste Woche lang bewegte sich nichts hinter dem Fenster. Trotzdem ließ sie sich am Tor Zeit, klapperte mit dem Briefkastendeckel, tauschte die Zeitung noch einmal aus. Nichts. Die zweite Woche wollte verstreichen, als Lea wieder Herrn Starrenberg begegnete. Er kam heraus geeilt und sprach sie mit erstaunlich fester, fast grober Stimme durch die Stäbe des Tores an. »Danke für die Karte. Meiner Haushälterin geht es jetzt besser. Sie hat sich Urlaub genommen.«

      Lea hatte das Gefühl, sich fürchterlich lächerlich gemacht zu haben. Sie ärgerte sich über sich selbst. Jetzt schrieb sie schon Postkarten an Fremde, die mit ihr nichts zu tun haben wollten. Offensichtlich hatte sie dringend mal eine kalte Dusche nötig. Zu Hause versuchte sie, sich mit einem Buch abzulenken. Nach mehr als einer Stunde gab sie es auf und versuchte es mit einem Film. Doch auch darauf konnte sie sich nicht konzentrieren. Immer wieder war da dieser Blick, den sie nicht vergessen konnte, der ihr nicht aus dem Sinn gehen wollte. Dieser Blick, der nicht von dieser Welt war. Und der diese Welt doch so viel besser zu kennen schien als sie selbst. Was hatte er ihr sagen wollen?

       Bei Ayu, nahe Kawkareik, Südost Birma, Ende Mai 1996

      Als sie kamen, war San Youn zehn Jahre alt. Es war um die Mittagszeit. Sie arbeitete im Gehölz in der Nähe des Feldes, wo ihre Mutter gerade mit den Schwestern den Reis erntete, suchte nach Kleintieren, die sie später rösten würden. Ihr Bruder Aung Ni sammelte Holz, das geeignet war, um die Hütte auszubessern. Sie konnte ihn hören, er war ganz in der Nähe.

      Sie kamen von der anderen Seite des Feldes. Waren einfach plötzlich da. San Youn hörte Schreie und Schüsse. Auch im Dorf fielen Schüsse. San Youn schlich sich ängstlich zum Waldrand vor, von wo aus sie einen Teil des Feldes überblicken konnte. Sie sah Soldaten, ein Knäuel aus Menschen in Uniformen. Plötzlich hörte sie Aung Ni schreien. Vom Waldrand aus rannte er auf das Feld. Dann die Stimme der Mutter. Sie kam aus der zusammengedrängten Masse der Soldaten, aus dem Menschenknäuel. »Lauf weg, lauf weg!« Aung Ni gehorchte nicht. Er lief auf das Feld, auf die Männer zu. Diese drehten sich zu ihm um und gaben den Blick frei auf einen Menschen, der auf dem Boden lag. Es war Mi Mi, sie lag dort und ein Soldat blieb auf ihr liegen, schaute aber hoch zu dem Jungen, der da übers Feld gelaufen kam. Die Soldaten lachten und schienen auf Aung Ni zu warten. Dann, als Aung Ni sie fast erreicht hatte, fielen Schüsse. Aung Ni stolperte, stürzte. Mi Mi schrie. Es war ein Schrei, wie San Youn ihn noch nie gehört hatte. Zwei Soldaten gingen zu Aung Ni und hoben ihn hoch. Er lebte noch. Sie hielten ihn neben der Mutter fest, während ein Soldat nach dem anderen sich auf Mi Mi stürzte.

      San Youn konnte sich nicht bewegen. Sie wusste auch nicht, wohin sie sich bewegen sollte. Auf das Feld oder tief in den Wald, sich verstecken. Sie wusste, sie würde Mi Mi und Aung Ni nicht helfen können. Sie musste weg, vielleicht würden sie kommen, um nachzusehen, ob noch mehr Dorfbewohner im Wald waren. Sie würden sie finden und auch erschießen oder über sie herfallen. Oder sie mitnehmen und verkaufen. Es waren keine Gedanken, die ihr da durch den Kopf gingen, sondern Gewissheiten. Sie lief los. Tief, tiefer in den Wald, so schnell sie konnte. Sie kämpfte sich durch das Dickicht, stolperte, fiel, riss sich den Fuß auf, lief weiter. Ihre Schwestern …? Egal, sie liefen hoffentlich auch in den Wald, waren vielleicht schon tiefer im Wald, schon früher losgelaufen. Sie lief, bis sie nicht mehr konnte, bis ihre Beine sie nicht mehr tragen konnten und ihre Lungen zu bersten drohten. Schwer nach Atem ringend kroch sie tief in ein Elefantengrasdickicht hinein. Versuchte, so wenige von den breiten Halmen wie nur möglich umzuknicken und rollte sich zusammen, hielt sich die Ohren zu, schloss die Augen und versuchte, nicht da zu sein. Sie wartete.

      Nur an der Veränderung des Lichtes konnte San Youn abschätzen, wie viel Zeit verstrich. Sie wusste, das konnte täuschen, denn zwischen die Bäume und durch das dichte Elefantengras drang fast kein Licht. Auf ihrer Haut spürte sie das unnachgiebige Kribbeln und Beißen von Ameisen. Sie wagte nicht, sich zu bewegen,


Скачать книгу