Die Farbe von Jade. Luzia Schupp-Maurer
Youn: »Darf ich spielen gehen?«
»Wohin gehst du?«
»Ich reise um die Welt und gehe nach Europa!«
»Du bleibst in der Nähe, hörst du? In Rufweite! Keinen Schritt weiter!«
An Mi Mis plötzliche Strenge war San Youn gewöhnt. Dennoch erschrak sie über das harte Verbot immer wieder aufs Neue und über die Angst, die darin mitschwang, die Angst vor den Soldaten. Die Soldaten. Wegen den Soldaten durfte sie nicht um die Welt und nach Europa reisen, wegen den Soldaten durfte sie nicht frei spielen. Weil ein kleiner Soldat, ein Kind noch, den Vater so schwer verwundet hatte, dass ihm auch die starken Kräuter und die Geister nicht mehr helfen konnten. Es war noch nicht lange her, als die großen Soldaten den Bruder mitgenommen hatten und er jetzt irgendwo in den Bergen, in den Wäldern oder sonst wo, andere Väter totschießen musste. Jetzt hatten sie noch weniger zu essen und mussten noch mehr arbeiten. Doch selbst die Arbeit auf dem Reisfeld war gefährlich, wenn die Soldaten in der Nähe waren. Unter der hübschen gelbweißen Bemalung wurde San Youns Gesicht traurig und ernst. Mi Mi drückte ihr die leere Reibschale in die Hand. »Hilf mir lieber, den Reis zu trocknen und Fackeln zu machen. Und danach kochen wir.«
Während die Mutter sich auf dem kleinen Platz hinter der Hütte um die eingebrachte Ernte kümmerte, den Reis drosch, ausbreitete und wendete, machte San Youn die Fackeln, indem sie in dicken Schichten Kuhdung an Zweige klebte. Die Thanaka-Paste kühlte angenehm ihr Gesicht. Hinter ihr stand die graue Zebu-Kuh und kaute friedlich auf ein paar Blättern herum. San Youn mochte die Kuh, mochte ihren Geruch, ihren Höcker und ihr breites Maul. Wenn es kühler war, genoss sie es, sich an sie zu lehnen und ihre Kraft zu spüren. Heute war es dafür zu warm. San Youn hörte den Dreschflegel der Mutter hinter der Hütte und atmete die feuchte Luft. Sie schaute in den Himmel. Kein Windhauch regte sich, um in den braunen, trockenen Nipapalmblättern des Daches auf der Hütte zu rascheln. Es war Ende Mai, bald würde der Regen anfangen.
Nachdem San Youn mit den Fackeln fertig war, rieb sie die Chilischoten für das Essen und kochte den Reis. Zum Essen kamen ihre beiden Schwestern vom Feld und ihr Bruder Aung Ni aus dem Wald: der, den die Soldaten nicht mitgenommen hatten. Ein leerer Topf kam aufs Feuer und Aung Ni warf seine Beute hinein, die Grillen, die er im Wald gefangen hatte. Er nahm sich zuerst von dem Reis mit Chili und den jetzt knusprig gebratenen Grillen. Danach aßen die beiden Schwestern San Kyi und Nu Kaung, weil sie alle älter waren und so hart arbeiten mussten. San Youn bekam die Reste. Die letzte Ernte war schlecht gewesen. Der Sturm hatte sie weitgehend zerstört. Nun musste man das Essen gut einteilen. Gierig stopfte sie sich mit der rechten Hand die kleine Portion in den Mund, während die Linke ordentlich auf ihrem Schoß lag. In Europa, so hatte sie gehört, aßen die Leute mit beiden Händen. Vielleicht war deren Hunger sehr groß und sie kauften deshalb vielleicht so viel Reis aus Asien, weil ihr eigener nicht reichte.
Jemand hatte San Youn erzählt, dass in Europa die Namen der Menschen keine Bedeutung hatten. Das war hier ganz anders. Ihr voller Name war Win San Youn und jede Silbe hatte eine Bedeutung. Wie es bei Kindern üblich war, stand das erste Wort ihres Namens für den Wochentag, an dem sie geboren wurde, Win, Mittwoch. San und Youn bedeuteten besonders und Schutz. Ihre Mutter hieß Mi Mi, kleine Mutter. Sie war wirklich nicht sehr groß, deshalb passte der Name auch so gut.
Als die Geschwister wieder aufbrachen, schaute die Mutter ihnen hinterher. Dann hockte sie sich vor San Youn nieder und betrachtete ihre mageren Ärmchen. »Du wirst auch bald auf dem Reisfeld helfen. Du bist schon sieben Jahre alt. Da wird es langsam Zeit zu arbeiten. Vielleicht gibt es dann auch wieder mehr Reis.« Sie schaute San Youn in die Augen. Ihr Gesicht war ernst und voller Sorge. »Versuche nie, niemals ein Gewehr in die Hand zu nehmen. Und wenn du es doch tun musst …«, sie atmete durch, »dann schieß daneben. Egal für wen du schießt. Es könnte genauso gut dein Vater sein.« Sie nahm den Elefanten von ihrem Hals und hängte ihn San Youn um. »Du bist die Jüngste und Schwächste und bekommst am wenigsten Reis. Der soll dir helfen, auch groß und stark zu werden. Er wird dich beschützen.«
Bremen, Deutschland, 2005
Der Tag war verregnet. Lea zog den Reißverschluss ihrer Dienstjacke ganz nach oben unters Kinn und schlug sich die Kapuze über ihr kurzes blondes Haar. Sie fror. Der Regen allein störte sie nicht, der Wind aber trieb die Kälte bis in die Knochen. Wenn Wind und Regen sich gemeinsam in ihrer gnadenlosen Beharrlichkeit zeigten, konnte davor keine Kleidung schützen. Außer vielleicht der warme Mantel der Verliebtheit. Diesen hatte sie allerdings an den Nagel gehängt. Und Sommer war es mal wieder nur auf dem Kalender.
Leas Einsatzgebiet war Oberneuland, ein schöner und reicher Stadtteil Bremens. Selber würde sie sich hier nie ein Haus leisten können. Als Postbotin bestand da wohl keine Aussicht. Es blieb also bei Luftschlössern. Dennoch trug sie hier gerne die Post aus, besonders in der Siedlung mit den kleinen Einfamilienhäuschen. Wenn Lea mit dem Postrad kam, stand in so manchem Wohnzimmer ein Hund am Fenster und zog mit seiner Nase einen nassen Streifen auf das Glas. Es waren meist die teuren Rassen, denen man hier begegnete, stets top frisiert und verwöhnt. In der unmittelbaren Umgebung waren Wiesen, Weiden und kleine Waldstücke. Bauernhöfe durchzogen die Landschaft. Lea liebte es, zwischen den offenen Kuhställen zu den Briefkästen zu gehen, den Geruch von Vieh und Heu einzuatmen und den ein oder anderen unfrisierten Hund zu begrüßen.
Lea mochte Hunde. Sandra, ihre Freundin, hatte einen Hund gehabt. Ihre Ex. An dieses Wort musste Lea sich erst gewöhnen. Sie war ja selbst schuld, schließlich hatte sie Sandra den Laufpass gegeben. Diese ständige Streiterei um nichts war sie einfach leid. Sandra hatte immer was zu meckern, musste über alles diskutieren. Lea hatte sie für andere Dinge geliebt. Sandra hatte ein riesiges Herz für Tiere, was dazu führte, dass ihre sowie Leas Wohnung stets mit Fundtieren belegt waren, die in der Zeit, in denen sie arbeitsbedingt allein bleiben mussten, alles vollkackten, Möbel zerfraßen, Teppiche ruinierten und einen herzallerliebst begrüßten, wenn Mensch heimkam. Sandra spielte Gitarre. Sie spielte gut und Lea liebte es, ihr zuzuhören. Doch Sandra fand kein Ensemble, das mit ihr spielen wollte oder konnte. Sandras Fassade war rau und aggressiv. Dabei war die erste Zeit mit ihr die wohl schönste Zeit in Leas Leben gewesen. Eine romantische Zeit. Lea vermisste Sandras sensible Hände, ihre Umarmungen. Sie vermisste die Hundespaziergänge und die Gitarrenmusik bei Kerzenschein. Was sie nicht vermisste, waren die täglichen Provokationen, das Vergraulen aller Freunde und die Statusgeilheit. Sandra war wie ein Vogel mit brennenden Schwingen. Sie musste flattern, um ihre Flügel zu kühlen, und wenn sie umherflatterte, verbrannte sie alles um sich herum.
Irgendwann hatte Lea sich überwunden und die Beziehung beendet. Sie sehnte sich nach einer reiferen Beziehung – oder einfach nur nach Ruhe. In Leas Wohnung brannte es nun nicht mehr, und endlich auch nicht mehr in ihrer Brust. Dort war Ruhe eingekehrt. Ganz langsam. Jetzt musste sie nur noch die Asche zusammenfegen, in Dünger verwandeln und neue Samen ausstreuen.
Die feuchte Kälte kroch Lea unter die Kleidung. Sie zog ihren Kopf tief zwischen die Schultern, als sie auf das letzte Wohnhaus der Siedlung zuging. Es stand ein wenig abseits an der Gabelung der Straße, die sich hier in kleinere Wege aufzweigte und an Gärten vorbei zu den Weiden und Bauernhöfen führte. Es war rundherum von hohen dunklen Hecken umwachsen, die einen noch höheren Zaun verbargen. Dieses Haus wirkte ein wenig einsam und so, als habe der Besitzer ein besonderes Schutzbedürfnis. Allerdings stand das große Tor immer offen und führte den Zaun ad absurdum. Normalerweise. In letzter Zeit war es jedoch immer geschlossen. Schneeweiß war dieses Haus und hatte ein dunkles Dach und dunkle Fensterrahmen. Vor den Fenstern hingen dichte, lange Gardinen, die das Haus vor Einblicken schützten. Dabei war dank der Hecken gar nicht so viel von den Fenstern zu sehen. Das Haus passte irgendwie zu dem Namen seines Herrn, fand Lea: Starrenberg.
Seit einiger Zeit hatte sie fast jeden Tag den Eindruck, hinter den Gardinen eine Bewegung wahrzunehmen. Obwohl Starrenbergs Auto heute nicht da war, hatte sich hinter der Gardine eben wieder ein Schatten bewegt. Also klingelte sie, um ein Päckchen abzugeben. Nichts tat sich. Sie warf einen Brief ein, steckte die abonnierte Zeitung in die Zeitungsröhre unter dem Kasten und wandte sich zum Gehen.
Am nächsten Tag stand das Auto vom Starrenberg wieder in der Einfahrt. Als Lea die Zeitung in die Zeitungsröhre steckte, kam