Die Farbe von Jade. Luzia Schupp-Maurer

Die Farbe von Jade - Luzia Schupp-Maurer


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Mi Mi nickte dazu. »Das stimmt.« Dann hatte sie zu weinen begonnen. »Ich hasse jeden, der ein Gewehr in der Hand hält.«

       Jemand sagte: »Dein eigener Sohn, dein Ältester, den haben sie doch auch. Der hält jetzt wahrscheinlich auch ein Gewehr in der Hand.«

      Mi Mi antwortete nicht.

      »Also ist es doch richtig, zu schießen«, behauptete ein Mann.

       Mi Mi stand auf und sagte nur leise: »Wie ihr meint. Gott hat es uns in die Hand gelegt. Uns allen. Und jeder muss nun sehen, was er damit macht.«

      Die Leute sagten oft, Mi Mi tue nur so, als sei sie klug, aber in Wahrheit sei sie zu dumm, um so etwas zu wissen. Manche hatten sie für verrückt erklärt.

      San Youn war jetzt die Älteste. Sie war jetzt ihre Mutter. Sie versuchte, die Mutter in sich zu finden und die alte, weise Frau. Versuchte, sie zu befragen. Wie lange konnte sie im Dschungel überleben? Und was könnte sie retten? Was sollte sie tun? Im Wald konnte sie nicht ewig bleiben. Wo sollte sie hin? Nach Europa, kam es ihr in den Sinn. Und jetzt fiel ihr plötzlich auf, dass ihre Mutter sie all die Jahre darauf vorbereitet hatte: Sie sollte nach Europa. Aber wo lag Europa – und wie reiste man um die Welt? Im Süden und im Westen solle das Meer sein, hatte die Mutter ihr gesagt. Und nach Europa komme man am besten durch die Luft oder mit einem Schiff. Wenn aber das Meer im Süden ist und Europa im Norden – wie sollte sie dann mit einem Schiff dorthin kommen? Und hier in den Wäldern gab es keine Flugzeuge. Die gab es in der großen Stadt, in Rangun. Die war im Westen und man musste ein großes Stück Meer umwandern, um dorthin zu kommen. Und da war das Militär. Doch vielleicht auch ein paar Europäer, die dort Reis einkauften und die sie mitnehmen konnten. Mi Mi hatte San Youn auf Europa vorbereitet. »One, two, three, four, five …«, so hatte sie ihr Englisch beigebracht, »six, se-ven«. San Youn hielt den Elefanten auf ihrer Brust fest und schaute sich hilflos um. »Eight, nine, ten and then e-le-ven …« Sie sprach ängstlich den Zählreim vor sich hin und die Wörter, die sie gelernt hatte, suchte nach den Wörtern wie nach einer schützenden Hand. »Rice, coconut, thank you, love«, sie ging zögerlich zurück durch das Dorf in die andere Richtung, Richtung Westen, »yes, no … fish … yes, no …« Aber wie man ein Flugzeug finden kann, das wusste sie nicht.

      Wieder kam sie an ihrer zerstörten Hütte vorbei. Sie blieb stehen. Dann verließ sie der Mut. Sie kauerte sich auf den Boden in der Ruine, zog ein paar Palmblätter des eingestürzten Daches über sich und rollte sich ein. Die zerbrochene Reibschale nahm sie fest in den Arm und endlich lösten sich die Tränen. Erst Stunden später, als sie sich völlig müde geweint hatte, ihre Augen brannten und keine Tränen mehr da waren, schlief sie ein.

       Bremen, Deutschland, 2005

      Lea trug weiterhin die Post aus, bei Sonne, bei Regen und bei Wind. Hinter der Gardine war es still geworden. Manchmal bildete sie sich noch ein, hinter dem Fenster einen Schatten zu sehen, aber sie schaute kaum noch hin. Es wurde Herbst, es kam der lange November, der Januar. Das Jahr 2006 war angebrochen. Monate waren ins Land gezogen. Die Tage waren kürzer geworden und die Abende unendlich lang. Eigentlich wurde es zurzeit gar nicht erst hell, zumindest fühlte es sich so an.

      Ein kalter Wind blies ihr den Regen ins Gesicht und die Hände wurden klamm. An diesem Nachmittag stand das Tor des Hauses Starrenberg wieder offen. Lea überlegte, ob sie die Post weiterhin hier am Tor in den Kasten werfen sollte oder in den Kasten direkt am Haus. Sie entschloss sich für den Kasten am Tor. Mit steifgefrorenen Fingern fasste sie nach den Zeitungen in ihrer Wagentasche und zog dabei versehentlich ein paar andere Zeitungen mit hinaus, die unversehens auf das nasse Pflaster klatschten. Natürlich musste genau in diesem Moment der Wind auffrischen und in die Zeitungen greifen. Lea fluchte in ihre Kapuze hinein, die sie fest um den Kopf gezogen hatte, und sammelte die Zeitungen auf. Sie stapfte ungelenk hin und her und raffte die Zeitungsblätter zusammen, legte sie gegen den Willen des Windes wieder zurecht. Hoffentlich waren sie nicht allzu schmutzig geworden. Sie hatte nämlich keine Lust, sich eine Beschwerde einzufangen. Plötzlich nahm sie dicht hinter sich einen Schatten wahr. War ja klar. Jetzt musste auch noch der Starrenberg ihr begegnen und sie bei einem solchen Missgeschick erwischen. Abrupt drehte sie sich um. Hinter ihr stand eine Frau, die sich eingepackt hatte wie ein Yeti und aus deren Kapuze heraus Lea ein Blick traf, der ihr die Knie weich werden ließ, tief und unergründlich, jener Blick, den sie versucht hatte, zu vergessen.

      »Verzeihung«, stammelte Lea und ging einen Schritt zur Seite, um ihr mehr Platz zu machen. Dabei war da genug Platz. Die Frau stand still wie ein Baum bei Windstille und schaute Lea an. Lea schluckte, stammelte ein unschlüssiges »Guten Tag«. Ihre Stimme war plötzlich belegt. »Na, wieder da?« Lea hasste sich für diese blöde Frage. Was sollte die andere denn antworten – nein, ich bin nur eine Erscheinung? Außerdem mischte sie sich mit dieser Frage schon wieder ein.

      Die Frau senkte den Kopf. »Ja«, sagte sie kaum hörbar. Kurz darauf schaute sie verstohlen wieder auf und lächelte. »Danke. Für Karte.« Ihre Stimme war leise und warm. Sie hatte einen starken Akzent.

      Lea konnte im ersten Moment nicht antworten. Dass die Frau sofort an die Karte dachte, wunderte Lea, immerhin war das jetzt schon fast ein halbes Jahr her. »Gern«, sagte sie und lächelte unsicher. Die Frau wirkte gar nicht so abweisend, wie Lea es vermutet hatte. Ganz im Gegenteil. In Lea regte sich der Impuls, nach ihrem Namen zu fragen. Der feige – oder auch vernünftige – Teil in Lea stellte sich eifrig dagegen. Sie überlegte, ob es nicht eine unverfängliche Frage gab, die sie stellen könnte, denn sonst wäre es jetzt eigentlich an der Zeit zu gehen. Und sie stellte fest, dass sie das nicht wollte. Sie wollte noch mit dieser Frau sprechen, wollte herausfinden, wer sie war, wollte wissen, ob sie tatsächlich für den Herrn Starrenberg nur arbeitete, oder ob da noch mehr war – wollte eigentlich nur in ihrer Nähe sein. »Sagen Sie, soll ich die Post hier am Tor einwerfen oder am Haus?« Die Frau schien die Frage nicht zu verstehen. Lea zog einen Brief aus dem Wagen und zeigte auf die beiden Briefkästen. »Post – da oder da?«

      Die Frau zögerte und wies auf den Kasten am Tor: »Da.« Dann lächelte sie verschwörerisch und zeigte auf den anderen Kasten, direkt am Haus. »Nein, da.«

      Über Leas Gesicht zog sich unwillkürlich auch ein breites Lächeln. »Gut«, sagte sie. »Also bis bald.« Sie gab sich innerlich einen Tritt in den Hintern, um zu gehen.

      Während sie über das Kopfsteinpflaster durch die Weiden fuhr, konnte sie nicht umhin, innerlich vor Freude zu hüpfen, ohne so genau zu wissen, warum. Darüber, dass sie der Frau endlich doch begegnet war, dass sie mit ihr gesprochen hatte? Darüber, dass sie noch einmal so einen Blick bekommen hatte? Darüber, dass die Fremde sich noch an die Karte erinnerte? Darüber, dass sie die Briefe bis ans Haus bringen durfte? Letzteres war doch vollkommen albern. Was machte es schon für einen Unterschied! Die Frau hatte sie nicht auf größtmöglichem Abstand gehalten. Das war der Unterschied. Na und? Lea war ja nicht … Nein, das konnte ja nicht sein, das wäre ja Blödsinn, sie konnte nicht … Sie grinste glücklich in sich hinein und musste gleichzeitig über sich lachen und mit sich schimpfen, denn sie war es offensichtlich doch – verliebt. Zumindest ein wenig.

      Zu Hause kochte Lea sich eine Riesenportion Nudeln. Während sie die Tomaten schnitt und im Hintergrund Mercedes Sosas voluminöse Stimme sang, grinste sie immer noch zufrieden. Nein, das war doch sinnlos. Sie sollte sich das ganz schnell aus dem Kopf schlagen. Als sie den Knoblauch hackte, dachte sie an das Lächeln dieser Frau. Sie war vielleicht unsicher, darunter allerdings schimmerte eine enorme Stärke durch. Und Verletzlichkeit. Vielleicht auch Verletztheit. Das Basilikum ließ traurig die Blätter hängen. Wo sie wohl herkam? Nein, Quatsch, das war doch völlig egal. Außerdem war sie wahrscheinlich mit diesem blöden Typen zusammen. Okay, er hatte Lea nichts getan. Vielleicht war er ja gar nicht blöd. Wenigstens hatte sie noch gefrorene Kräuter im Tiefkühlfach. Möglicherweise war sie ja auch verheiratet und hatte tausend Kinder. Ach Scheiße. Das Olivenöl breitete sich langsam in der Pfanne aus. Was wohl die Muttersprache der schönen Fremden war? Lea dünstete den Knoblauch und die Tomaten kurz an und mischte die Kräuter unter. Als sie aß, saß die Frau mit ihr am Tisch, Lea sah ihren unergründlichen Blick, hörte ihre warme Stimme und suchte nach Antworten.

      Es


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