Hypnodrama in der Praxis. Ruth Metten
mehr wissen, dass das, was wir gerade wie gebannt erleben, »nur« eine hypnotische Wirklichkeit und nicht die – wie Peter sich ausdrücken würde – »normale« Wirklichkeit (Peter 2009, S. 58; 2015, S. 38) ist. Ein solcher Zustand setzt hochfokussierte Aufmerksamkeit voraus. Sie ist allerdings nur zu erreichen, wenn, wie es der bereits erwähnte Ernest Ropiequet Hilgard in seiner Neodissoziationstheorie (vgl. Hilgard 1973, 1977, 1989) postulierte, unser Monitoring wegfällt – das Gewahrsein dessen, was geschieht, aus der Perspektive eines distanzierten Beobachters (vgl. Metten 2012, S. 98; vgl. Metten 2020, S. 78, 147). Um dafür einen Vergleich des Psychiaters und Hypnoseforschers David Spiegel zu verwenden: In Hypnose nehmen wir so wahr, als stünde uns kein Weitwinkel, sondern nur die eingeengte Perspektive eines Teleobjektivs zur Verfügung (vgl. Spiegel 2008, p. 181).
Die Aufmerksamkeit wird auf die hypnotische Wirklichkeit ausgerichtet und alles andere ausgeblendet. Das funktioniert nicht nur, wenn wir, wie bei der traditionellen Hypnose, mit geschlossenen Augen beinahe regungslos verharren. So belegen wissenschaftliche Studien, dass die Aufmerksamkeit auch bei der Aktiv-Wach-Hypnose hochfokussiert ist, während es zugleich an Realitätsprüfung mangelt, das Erlebte also unkritisch als real gewertet wird (vgl. Bányai, Zseni a. Túry 1993, pp. 272, 286, 288; vgl. Bányai, Mészáros a. Greguss 1981; vgl. Mészáros, Bányai a. Greguss 1981). Ob unbewegt oder motorisch rührig – in beiden Fällen können wir in Hypnose sein.
Allein, was nützt es im Psychodrama, nur körperlich aktive Teilnehmer zu haben, wenn diese zugleich in ihre hypnotische Innenwelt versunken bleiben und alles andere ausblenden? So könnten vielleicht noch Aktionen, hingegen gewiss keine Interaktionen stattfinden. Dem Handeln der Teilnehmer fehlte schlicht der aufeinander ausgerichtete Bezug. Aber wie uns der amerikanische Psychologe und Ericksonschüler Jeffrey K. Zeig erklärt, kann in Hypnose beides geschehen: Menschen können dabei entweder in eine innere oder in eine äußere Wahrnehmung vertieft sein (vgl. Zeig 2014).22 Ihre Aufmerksamkeit müsse nicht unbedingt nach innen gerichtet sein, wie es traditionelle Hypnose ansätze vertreten. Tatsächlich bestehe die Möglichkeit, dass Menschen in Hypnose sogar hyperalert und extrem stark außenorientiert seien (vgl. Zeig 2014).23
Genau das brauchen wir, wenn Psychodrama in Hypnose stattfinden soll. Es reicht nicht, wenn die Teilnehmer dabei wach und aktiv sind, aber auf eine hypnotische Innenwelt bezogen bleiben. Sie müssen sich außenorientiert verhalten, in eine gemeinsame hypnotische Außenwelt eintauchen können. Hypnodrama bedeutet, dass die Teilnehmer ganz in die Wirklichkeit ihres gemeinsamen Spiels versunken agieren und nicht mehr realisieren, dass es sich »nur« um die Geschehnisse auf einer therapeutischen Bühne handelt, weil sie alles andere ausblenden. Klingt das noch merkwürdig für uns? Fällt es mit diesem Verständnis von Hypnodrama noch schwer zu akzeptieren, dass es so etwas gibt? Vielleicht wird jetzt der eine oder andere sogar denken: »Wenn das Hypnodrama ist, dann habe ich es schon häufig erlebt.« Stimmt. Denn als Kinder waren wir Weltmeister darin.
Also, es geht. Hypnodrama ist kein Hirngespinst, sondern ereignet sich tatsächlich, sogar viel öfter, als wir vermutlich dachten. Doch wozu das Ganze? Warum nicht einfach nur das Psychodrama anwenden? Wieso es in Hypnose stattfinden lassen? Was soll das bringen?
1.3.2Was bringt die Hypnose dem Psychodrama?
Erinnern wir uns kurz daran, wie Moreno das Hypnodrama entdeckte (siehe Abschnitt 1.3). Rein zufällig soll es geschehen sein, und zwar in einem Moment, als er mit den psychodramatischen Technik en zunächst nicht weiterkam. Seine Hauptspieler in litt damals unter sexuellen Wahnvorstellungen und Albträum en. Jede Nacht wurde sie vom Teufel heimgesucht, der mit ihr schlief. Eine quälende und peinliche Angelegenheit, nicht wahr? Wer wollte sich damit schon freiwillig konfrontieren? Noch dazu auf der Bühne, vor anderen? Niemand dürfte es wundern, dass Moreno zunächst vergeblich versuchte, sie dazu zu bringen, ihre Erinnerungen in Szene zu setzen. Doch dann wurde er sehr befehlend. Dem konnte sie sich offenbar nicht widersetzen. Sie fühlte sich gezwungen, ihm zu entsprechen, was ihr nur gelang, indem sie ihr Monitoring ausblendete, »vergaß«, dass sie vor anderen agierte und mit wem sie es wieder zu tun bekam. Wollte sie Moreno Folge leisten, blieb ihr kein anderer Weg, als sich ganz auf ihre Albtraumwelt zu fokussieren – d. h. in Hypnose zu gehen. Auch die traumatisierten Soldaten, die Enneis im Zweiten Weltkrieg behandelte, konnten ihre Abwehr gegen eine neuerliche Bewusstwerdung ihrer furchtbaren Erlebnisse aufgeben, indem sie in Hypnose gi ngen. In beiden Fällen wirkte die Hypnose – um es mit Morenos Worten auszudrücken – wie ein psychologischer Starter (vgl. Moreno 1950, p. 6; vgl. Enneis 1950, p. 12).
Enneis präzisiert diesen Effekt, indem er erklärt, dass die Hypnose den Patienten im Hypnodrama von vielen hinderlichen Barrieren und störenden Einmischungen des eigenen Ichs befreie. Sein Bestreben, zwei Rollen aufrechtzuerhalten – sich also während des eigenen Spiels auch von außen als kritischer Beobachter zu erleben –, werde geschwächt und es sei seinerseits nur noch ein Minimum an Ausweichen und Abwehr spürbar (vgl. Enneis 1950, pp. 12, 52; vgl. Sanders 1977, p. 373). Wie diese Aufrechterhaltung von zwei Rollen durch Hypnose umgangen werden kann, zeigt das folgende Fallbeispiel.
Ein 24-jähriger Klient – nennen wir ihn Emil – wird von einer Gruppenteilnehmerin ausgewählt, die Rolle ihres Vaters zu übernehmen. Darin soll er ihr zu Unrecht Vorwürfe machen und sie lautstark als egoistisch und verantwortungslos beschimpfen. Das fällt dem Klienten sichtlich schwer. Er spricht zwar die ihm vorgegebenen Worte aus, wirkt dabei jedoch zurückhaltend, zögerlich, unsicher. Der Leiter nimmt ihn daraufhin zur Seite und thematisiert die beobachteten Schwierigkeiten. Das stimme, bestätigt der Klient. Er nehme sich zurück, um nicht anzuecken, nichts Dummes oder Verletzendes zu sagen. Ob er sich denn erinnere, irgendwann in seinem Leben schon mal so richtig wütend gewesen zu sein, fragt ihn der Leiter. Ja, als Kind habe er sich einmal furchtbar über seinen kleinen Bruder aufgeregt, weil der ständig mit seiner Trompete rumgetutet habe – trotz der von ihm wiederholt ausgesprochenen Bitte, es nicht zu tun. Schließlich sei er wutentbrannt zu seinem Vater gelaufen und habe ihn aufgefordert: »Mach, dass er aufhört!« Der Leiter bittet den Klienten daraufhin, seine Augen zu schließen und noch einmal der Emil von damals zu sein …, zu fühlen, wie dieser furchtbar wütend auf seinen Bruder sei, … und jetzt zu seinem Vater zu laufen und von ihm zu verlangen, dass er etwas unternehme, damit sein Bruder aufhöre. Es sei hilfreich, wenn Emil dieses »Mach, dass er aufhört!« auch tatsächlich ausrufe. Genau das tut Emil – sogar wiederholt. Daraufhin bittet ihn der Leiter, nun mit dieser Wut die Rolle des Vaters zu spielen, was ihm diesmal – wie von der Teilnehmerin gewünscht – gelingt. Nach Spielende erklärt der Klient der Gruppe, sich anfänglich in seiner Rolle immer gefragt zu haben, »Ist das okay so?«, »Wirke ich komisch?«, »Rede ich zu laut?«. Er habe den Vater gespielt und sich gleichzeitig dabei beobachtet, in der Erwartung, etwas falsch zu machen, sich zu blamieren. Mit dem wütenden Emil sei es ihm möglich gewesen, den Kritiker außen vor zu lassen, hundert Prozent bei der Sache zu sein.
Darin besteht ein Vorteil, den das Hypnodrama gegenüber dem Psychodrama hat. Blockaden und Hemmungen lassen sich hier leichter umgehen (vgl. Supple 1977, S. 224 f.; vgl. Greenberg 1977a, S. 237; vgl. Sanders 1977, S. 374). Denn in Hypnose entfällt das Monitoring, das Gewahrwerden dessen, was geschieht, aus der Perspektive eines distanzierten Beobachters (siehe Abschnitt 1.3.1). Damit erübrigen sich meist Hemmungen, weil nicht mehr realisiert wird, dass das Spiel vor anderen stattfindet. Der Klient kann ganz in seiner Rolle aufgehen (vgl. Supple 1977, p. 224). Auch werden in Hypnose »konkurrierende« Welt en ausgeblendet. Problemtrancen (vgl. Schmidt 2015, S. 45), die die spielerische Darstellung blockieren könnten, treten währenddessen nicht in Erscheinung. Denn wie für Highlander, so gilt auch in Hypnose: Es kann nur einen – respektive eine – geben.24 Wir können uns nicht zugleich bewusst auf zwei oder mehr hypnotische Welt en fokussieren. In einer »drin« zu sein, bedeutet, die anderen verlassen zu haben. Wie hilfreich sich das im Psychodrama auswirken kann, mag das folgende Fallbeispiel verdeutlichen.
Eine 52-jährige Klientin – nennen wir sie Henriette – wird von einem Gruppenmitglied ausgewählt, in der Aktionsphase der Psychodrama-Sitzung die