Venedig. Geschichte – Kunst – Legenden. Max R. Liebhart
immer noch „kompakter“, was ja nichts anderes heißt, als dass sie immer weniger substantielle Information bieten. Man ist versucht, solche Führer mit fast food zu vergleichen, von dem man sich zwar ernähren kann, von dem man aber doch besser nicht leben sollte. Der hier vorgelegte Führer möchte hingegen eher slow food sein. Die Intentionen, die mit diesem Buch verfolgt werden, könnte man mit einem Vers aus Rilkes „Sonetten an Orpheus“ so beschreiben: „Alles das Eilende wird schon vorüber sein; denn das Verweilende erst weiht uns ein“. Außerdem wird der Benutzer an einen Themenkreis herangeführt, der bisher wohl noch nirgends Beachtung gefunden hat, nämlich an den reichen Legendenschatz Venedigs und der Lagune. Auf diese Weise sollen die kunstgeschichtlichen Erklärungen aufgelockert und eine Ahnung davon gegeben werden, wie tief, ja unergründlich der Boden ist, auf dem sich der Besucher in der Stadt bewegt.
Der genaue Ursprung des Namens „Venezia“ ist nicht bekannt. Doch gibt es eine Überlieferung, die berichtet, er leite sich ab von veni etiam, was frei am besten mit komm immer wieder zu übersetzen ist. Trifft diese etymologische Namensdeutung zu, so steht auch der Name für den dringlichen Rat, Venedig nicht eben nur in ein paar Stunden abzuhaken, sondern sich diesem Wunder wiederholt mit Zeit, Geduld und Beharrlichkeit zu nähern und zu öffnen.
Gedankt sei vielen Autoren, die seit Jahrhunderten über Venedig und die Lagune schreiben und aus deren Werken hier teils umfangreich zitiert wird. Für die kunstgeschichtlichen Betrachtungen sind das insbesondere der seit Jahrzehnen nicht mehr aufgelegte RECLAM-Kunstführer Venedig von Erich Hubala (1965, 2/1974) und das aktuellere Venedig-Buch von Norbert Huse (2005). Alle eingesehenen und zitierten Autoren finden sich im Literaturverzeichnis.
Wahrlich, mein Los hast du mir auferlegt
An lieblichem Orte
Und die Schönheit dieses deines Venedig
Hast du mir dargetan
Bis seine Lieblichkeit für mich geworden ist
Ein Ding der Tränen.
Ezra Pound
(zit. nach: Günter Treffer/Karlheinz Oertel, Venedig poetisch, Wien, Brandstätter 1988, S. 126)
Ein Frühlingsabend. Meine Gondel sucht
Mit halbem Rauschen ihre leisen Wege
Durch der Kanäle dämmernd enge Flucht,
Ich wiege mich im weichen Sitz und lege
Den Arm ausruhend auf den schmalen Bord
Indessen meine Seele süß verwirrt
Nach einem neu geahnten Zauberwort
Sich müde sucht und ganz in Traum verirrt.
Dennoch nicht rasten will ich und nicht weitergehen,
Eh’ ich nicht dieses Zaubers Kern erkannt,
Dem schönen Wunder auf den Grund gesehen,
Und seines Rätsels Ziel und Lösung fand.
Dann aber wird von unsagbaren Dingen
Mein Mund zu sagen wissen und zu singen.
Hermann Hesse
(„Venedig / Ein Frühlingsabend“, aus: Hermann Hesse, Sämtliche Werke in 20 Bänden. Hg. v. Volker Michels. Bd. 10: Die Gedichte.
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2002. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin)
Ich wollte, daß die Bäume sprechen könnten,
Die Blätter an dem Gipfel Zungen würden,
Das Meer zu Tinte, zu Papier die Erde,
Die Flur soll statt der Gräser Federn treiben,
Dann würd ich meinem Schatz ein Briefchen schreiben.
Wo wäre dann der Hund, der all mein Sehnen
Geschrieben säh, und läs es ohne Tränen?
Venezianisches Volkslied
Einführung in den Aufbau der Stadt
Johann Wolfgang von Goethe hat auf seiner ersten Italienreise nur wenige Wochen in Venedig verbracht. Trotzdem ist er tief in das Wesen der Stadt eingedrungen und hat Grundlegendes zu ihrem Aufbau niedergeschrieben, wovon hier einiges zitiert sei:
„Dieses Geschlecht hat sich nicht zum Spaß auf diese Inseln geflüchtet, es war keine Willkür, welche die Folgenden trieb, sich mit ihnen zu vereinigen; die Not lehrte sie ihre Sicherheit in der unvorteilhaftesten Lage suchen, die ihnen nachher so vorteilhaft ward und sie klug machte, als noch die ganze nördliche Welt im Düstern gefangen lag; ihre Vermehrung, ihr Reichtum war notwendige Folge. Nun drängten sich die Wohnungen enger und enger, Sand und Sumpf wurden durch Felsen ersetzt, die Häuser suchten die Luft, wie Bäume, die geschlossen stehen, sie mussten an Höhe zu gewinnen suchen, was ihnen an Breite abging. Auf jede Spanne des Bodens geizig und gleich anfangs in enge Räume gedrängt, ließen sie zu Gassen nicht mehr Breite, als nötig war, eine Hausreihe von der gegenüberstehenden zu trennen und dem Bürger notdürftige Durchgänge zu erhalten. Übrigens war ihnen das Wasser statt Straße, Platz und Spaziergang. Der Venezianer musste eine neue Art von Geschöpf werden, wie man denn auch Venedig nur mit sich selbst vergleichen kann.“ Und etwas später: „Alles, was mich umgibt, ist würdig, ein großes respektables Werk versammelter Menschenkraft, ein herrliches Monument, nicht eines Gebieters, sondern eines Volks. Und wenn auch ihre Lagunen sich nach und nach ausfüllen, böse Dünste über dem Sumpfe schweben, ihr Handel geschwächt, ihre Macht gesunken ist, so wird die ganze Anlage der Republik und ihr Wesen nicht einen Augenblick dem Beobachter weniger ehrwürdig sein. Sie unterliegt der Zeit, wie alles, was ein erscheinendes Dasein hat“.
Ein Wort von Jakob Burckhardt sei dem hinzugefügt: „Venedig erkannte sich selbst als eine wunderbare, geheimnisvolle Schöpfung, in der noch etwas anderes als Menschenwitz von jeher wirksam gewesen.“
Diese Zitate sollen vorbereiten auf das, was den Besucher Venedigs erwartet, wenn er sich dem wirklich zu öffnen vermag, was auf diesen Laguneninseln entstanden ist und sich davon noch erhalten hat.
Schon beim ersten Blick auf eine Karte der Stadt lässt sich mühelos feststellen, dass Venedig aus verschiedenen Teilen besteht. So teilt der Canal Grande mit umgekehrt S-förmigem Verlauf den Stadtorganismus, während die Insel Giudecca vom gleichnamigen breiten Kanal, die Insel San Giorgio Maggiore durch die weite Wasserfläche des Bacino abgetrennt wird. Seit 1169 ist Venedig in sechs Stadtbezirke unterteilt, die sogenannten sestieri, wobei die Grenzziehungen zwischen den einzelnen Quartieren aus heutiger Sicht nicht immer nachvollziehbar, wirkliche Grenzen an manchen Stellen gar nicht erkennbar sind. In der Zeit der Republik erfolgte die Orientierung offenbar fast ausschließlich an Hand der Namen von Gassen und Plätzen. Das heute gültige System der Nummerierung geht auf Napoleon zurück. 29.254 Hausnummern sind für die ganze Stadt vergeben, in jedem der sestiere beginnt die Zählung bei 1. Doch da die Nummern ohne jedes erkennbare System verteilt sind, ist es schwierig oder gar aussichtslos, eine bestimmte Nummer zu suchen. Auch in den gängigen Stadtplänen ist außer den Namen der Gassen nichts vermerkt. Auf der Suche nach einer bestimmten Hausnummer ist man auf die Hilfe des sogenannten Indice anagrafico angewiesen, der im Buchhandel erhältlich ist. Ferner sollte man bedenken, dass einige Gassennamen in Venedig bis zu sechsmal vorkommen können, nämlich einmal in jedem sestiere.
Schon alleine deshalb wirkt die Stadt verwirrend und es ist teilweise recht schwierig, sich in ihr und ihren einzelnen Bezirken zu orientieren. Ein Stadtplan mag zwar nützlich sein, stellt aber nur bedingt eine zuverlässige Hilfe dar, ebenso wenig wie die Auskünfte der Venezianer, die, sofern man sie überhaupt antrifft, auf die Frage nach dem Weg meist nur mit einem „sempre diritto“ antworten. Wie aber sollte der unerfahrene Venedig-Besucher einen solchen Rat befolgen in einer Stadt, in der es fast nirgends „geradeaus“ geht!
Es ist nicht möglich, die einzelnen Stadtteile mit einem einzigen Rundgang vollständig zu erschließen und dem Besucher alles Sehenswerte näher zu bringen. Das ist