Mordsmäßig heilig. Barbara Merten
Frau Burchardt!« Der Arzt tätschelte ihre Wangen. Die zu einem Bubikopf kurz geschnittenen, graumelierten Haare klebten ungekämmt am Kopf.
Vielleicht kümmert sich ein Pflegedienst um die Frau. Hoffentlich bleibt mir so ein Zustand mal erspart, dachte Schneider.
Ein leises Stöhnen riss Arzt und Kommissar aus ihren Gedanken. »Oooochhh.« Die Frau schlug die Augen auf, schaute sich um. »Alfred? Alfred! Wo bist du?«, flüsterte sie kaum hörbar. Sogleich fielen die Augen wieder zu.
Der Arzt hob die Augenbrauen, blickte den Kommissar an. »Sie muss sofort ins Krankenhaus.«
Schneider nickte. »Wird sie durchkommen?«
»Schwer zu sagen. Ich kenne sie nicht. Sie ist alt, scheint ein schwaches Herz zu haben und wahrscheinlich hat sie zu wenig getrunken. Man muss schauen, wie ihr sonstiger Zustand ist. Sie kümmern sich um die Angehörigen und so weiter?«, fragte der Doktor, stand auf und ging neben den Sanitätern her, die Frau Burchardt zum Rettungswagen und danach ins Duderstädter Krankenhaus bringen würden.
Schneider zog den kleinen Block mit dem Bleistiftstummel aus der Hemdtasche. Magda Burchardt: Alfred, Alfred, wo bist du?, notierte er sich. Jedes Detail konnte wichtig sein. Das war das Erste, was er nach der Befragung in seinem Büro an die Wand pinnen würde. Ab jetzt würde er jede Kleinigkeit wahrnehmen und vermerken. Ist es ein brauchbarer Hinweis? Mal sehen. Bis jetzt ist alles offen. Jedenfalls werde ich nicht mehr so oberflächlich wie heute Nachmittag bei Mathilde sein, schwor er sich.
Kapitel 5
Die schmerzhaftesten Wunden sind die Gewissensbisse.
– Joachim Ringelnatz –
Mittwochabend
Auf dem Rückweg von Germershausen meldete sich Oberwachtmeister Paschke. »Hallo Christian, ich bin jetzt mit dem Küster in St. Cyriakus. Du hattest mal wieder die richtige Schnüffelnase. Es fehlt tatsächlich ein altes Relief aus der Spätgotik. Der Dechant von Göttingen ist schon informiert. Er ist momentan auch für Duderstadt zuständig. «
»Mist! Leider war das diesmal nicht meine, sondern Mathildes Schnüffelnase, hmpf.« Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Schneiders Magengegend aus. Das wird sie mir jetzt jeden Tag aufs Butterbrot schmieren. Er schob den Gedanken schnell beiseite, fragte: »Was für ein Bild war das denn? Kann man das so einfach abhängen und mitnehmen?«
»Ja, anscheinend. Ein geschnitztes Holzrelief mit der hl. Sippe. Ich schätze von der Größe her so auf einen Meter breit und achtzig Zentimeter hoch«, erklärte ihm Cop. »Der Küster hat mir ein Foto aus dem Kirchenführer gezeigt. Die Großfamilie von Jesus ist dargestellt, mit der Gottesmutter Maria, deren Mutter Anna und der ganzen Verwandtschaft. Nach der Beschreibung ist es ein Teil aus einem ehemaligen Annenaltar und hing bis heute Mittag im Johanneschor an der Wand. Der Küster kennt sich übrigens sehr gut aus mit den Schätzen, ist natürlich jetzt fix und fertig. Der scheint sich mit seinem Job total zu identifizieren. – Ach ja, die haben übrigens in der Kirche eine Kamera installiert. Bin gespannt, ob man auf dem Film jemanden sehen kann. Wenn´s klappt, zieh ich das Filmchen auf einen Stick. Der Küster meint, das geht. Obwohl hier alles alt ist, sind sie technisch super ausgerüstet.«
»Ein Film vom Diebstahl. Hmpf. Hört sich gut an. Bring ihn mit aufs Revier, wenn das Überspielen klappt. Sonst muss ich rüber kommen. Der Küster soll unbedingt die Kirche abschließen. Und ruf die Techniker aus Göttingen an! Die werden sich wundern, dass sie gleich zwei Mal hintereinander in ein Gotteshaus müssen. So kann man sich auch Leute in die Kirche holen. Bis gleich!«, beendete Schneider das Gespräch.
Der letzte Satz, den er eigentlich ganz unüberlegt gesagt hatte, beschäftigte ihn.
Könnten extrem Konservative auf die Idee gekommen sein, durch Diebstahl mehr Aufmerksamkeit auf Kirche und Glauben lenken zu wollen? – Oder wollen sie die lauen Katholiken bestrafen, nach dem Motto: Wir nehmen uns, was euch eh nicht mehr wichtig ist? – Das Bild der Großfamilie, der sorgenden Mutter? – Gibt es unter den AnhängerInnen von ›Maria 2.0‹ AktivistInnen? Wenn diese Leute Aufmerksamkeit haben wollen, werden sie sich irgendwann outen. Vielleicht gehen sie über die Medien oder schicken ein Bekennerschreiben an den Bischof. Das wär´s. So was hatte ich noch nie. Er dachte weiter: Viele sind aber auch entrüstet, wie die Obrigkeit in der Coronakrise die Menschen allein lässt. Aber das erklärt nichts, verwarf er den Gedanken. Auch ohne Mord und Totschlag scheint der Fall knifflig zu werden.
Auf dem Duderstädter Revier hatten die meisten Beamten schon Feierabend. Schneider grüßte den Polizisten unten an der Pforte und sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf in sein Büro in der ersten Etage. Er war gerade dabei die leere Stellwand mit den Worten von der alten Frau Burchardt aus Germershausen zu bestücken, als Wachtmeister Carl-Otto Paschke, mit einem Stick in der Hand wedelnd, hereinkam. Erwartungsvoll fragte Schneider: »n´Abend, Cop. Ist was drauf?«
»Schauen wir mal.« Der Wachtmeister setzte sich an den Schreibtisch, fuhr den PC hoch, steckte den Stick ein und trommelte mit den Fingern nervös auf der Tastatur herum. »Na, komm schon. Wie lange brauchst du noch?«, stöhnte er ungeduldig. »Wann kriegen wir hier endlich schnellere und bessere Computer? Wir sollen mit mittelalterlichen Geräten alles aus dem Dreck ziehen«, wandte er sich an seinen Chef.
»Nun lass mal gut sein. Wir leben hier auf dem Lande und machen das in Ruhe, dann geht es im Endeffekt schneller als mit deiner Hektik. Glaub mir«, versuchte Schneider den Hitzkopf zu beruhigen. »Die paar Sekunden wirst du wohl aushalten. Unser Denken und Kombinieren geht ja auch nicht immer blitzartig. Alles braucht eben seine Zeit.«
Auf dem Bildschirm erschien der Innenraum der Basilika in Schwarz-Weiß. Der Kommissar zog sich den Besucherstuhl ran, setzte sich neben den Wachtmeister.
»Schaltet sich das nur bei Bewegung ein oder müssen wir jetzt stundenlang die Leere der Kirche betrachten?«, fragte er und schaute auf seine Uhr.
»Alles in Ruhe, nach der Uhrzeit. So wolltest du es doch«, grinste Cop. Schneider knuffte ihn.
»Na ja, wenn es sein muss, kann ich vorspulen. Wann schätzt du, dass die Diebe da waren?«
Schneider zog die Augenbrauen hoch und sog Luft ein. »Hmpf. Ich frag Mathilde, wann sie mit unserer Nichte an der Kirche war.« Er atmete laut aus. Mist, aber nicht zu ändern. Mathilde ist eine Zeugin. Widerwillig nahm er sein Handy, stand auf, drückte die Nummer von zu Hause und ging wartend im Zimmer umher. Als sich Mathilde meldete, blieb er stehen. Ehe sie ihn mit Fragen bombardieren konnte, stoppte er sie mit fester Chefstimme, die keinen Widerspruch duldete: »Mathilde! Sag nichts, sondern hör mir jetzt gut zu.«
»Aber, was ...«
»Rede bitte nicht dazwischen! Du hattest recht. In der Basilika ist heute wirklich ein Bild gestohlen worden. Kannst du mir genau die Uhrzeit sagen, wann du mit Elschen bei der Kirche warst?« Er lauschte. »Mathilde? Bist du noch dran?«
»Darf ich jetzt reden?«, fragte seine Frau schnippisch.
»Nur die Uhrzeit bitte. Das andere kannst du mir erzählen, wenn ich nach Hause komme. So in einer Stunde. In Ordnung?«
Schneider spürte, wie seine Hände feucht wurden und zitterten. Warum passierte ihm das immer, wenn seine Frau anfing, ihn mit ihrem Gekeife mundtot machen zu wollen? Sah er in Mathilde dann seine dominante Mutter, die ihn stets wie ein dummen Jungen behandelt hatte? Er musste sich doch dagegen wehren, oder?
»Es war um halb vier«, sagte Mathilde, mehr nicht.
Aber wie sie es sagte. Schneider fühlte es. Sie war zutiefst beleidigt. Er zog die Augenbrauen hoch, presste die Lippen fest aufeinander. Das schlechte Gewissen meldete sich, nagte. So redet man nicht mit seiner Frau. Es tat ihm leid. Eigentlich war Mathilde doch seine Beste, trotz allem. Darum versuchte er nett zu klingen. »Aah, um halb vier! Danke, mein Schatz. Du bist ein Engel!« Er legte auf. Auf dem Nachhauseweg fahre ich bei Edeka vor und nehme ihr einen