Seewölfe Paket 1. Roy Palmer
von einem Unbekannten ein Stuhlbein hinterrücks über den Schädel. Es war das Stuhlbein, mit dem der Seewolf niedergeschlagen worden war.
London-Jack wachte erst in einem Hospital wieder auf – und da fehlte ihm jegliche Erinnerung. In wirren Sätzen faselte er etwas von einem „Seewolf“, der Schiffe samt Masten, Takelage und Besatzung auffresse und demnach ein Monster sein mußte. Zweifelsohne hatte er einen Klaps, und die frommen Schwestern bekreuzigten sich, wenn sie ihn versorgten und dabei seine Schauermärchen hörten.
Die „Marygold“, zu deren Preßgang er als harter Schläger gehört hatte und auf der er laut Musterrolle Rudergänger gewesen war, lief am nächsten Morgen ohne ihn aus. Und ebenso wurde in der Musterrolle Tom Smith gestrichen, der nicht wieder an Bord fand, weil er an Bord des so lange verwaisten Ehelagers der Witwe Abigail Adelaide Drummer zwar auch stürmisch, aber weitaus angenehmer zuging als an Bord der „Marygold“.
Immerhin aber hatte die Preßgang als Ersatz zwei andere Fische gefangen, von denen der „Seewolf“ ein ganz dicker zu werden versprach, während das blonde Bürschchen, das mit ins Netz gegangen war, auch nicht so ganz ohne zu sein schien.
Außerdem hatte der Vormann der Preßgang, der Segelmacher Patrick Evarts, die Taschen des Seewolfs gefilzt und sich den Ledersack zurückgeholt.
Unterbemannt war die „Marygold“ keineswegs. Die Preßgang hatte in den Tagen zuvor bereits zehn Kerle aufgesammelt – zum Teil mit Hilfe des Plymsonschen Schlaftrunkes, vor allem aber ohne jeweilige Straßenschlacht.
Die Kunde von dieser Straßenschlacht durcheilte Cornwall und gelangte auch nach Arwenack, der Stammfeste der Killigrews über dem Hafen von Falmouth. Seufzend soll Sir John Killigrew gesagt haben: „Dieser Bengel ist der letzte Nagel in meinem Sarg.“
Und dabei muß er an jene Szene gedacht haben, bei der Philip Hasard, siebzehnjährig, seine letzte Ohrfeige von Sir John kassiert und darauf mit jäh zupackender Wildheit reagiert hatte.
Sir John hatte bei der Kunde über die Geschehnisse vor der „Bloody Mary“ sinnend auf das Hirschgeweih geblickt, das seit über hundert Jahren den Kamin in der Halle von Schloß Arwenack zierte.
Denn Sekunden nach der Ohrfeige hatte Philip Hasard zugelangt und den Alten in das Hirschgeweih über dem Kamin gehängt. Und seine drei Brüder, die den zappelnden und brüllenden Alten hatten herunterholen wollen, waren von dem Jüngsten der Sippe nach allen Regeln der Kunst verdroschen worden.
Am nächsten Morgen hatte Philip Hasard Killigrew vor versammelter Familie verkündet, daß er künftig jedem die Knochen zerbrechen werde, der es noch einmal wage, ihn anzufassen. Das gelte auch für den „Alten“, hatte er gesagt und dabei seine Zähne gezeigt.
Von da ab war Frieden auf Arwenack gewesen.
Eindeutig war Philip Hasard Killigrew intelligenter, kampfstärker, gerissener, tollkühner, aber auch charakterfester als seine drei Brüder. Dazu hatte er einen Charme, bei dem die alten Weiber von Falmouth wieder jung wurden, und die jungen Weiber wünschten, älter zu sein, um diesen schwarzhaarigen, blauäugigen, hartgesichtigen Teufel an die Brüste und unter die Bettdecke zu kriegen.
Geschafft hatte es keine.
Sie alle hörten bewundernd die Kunde vom Seewolf Killigrew, der ausgezogen war, um hinter die Horizonte zu schauen. Nur wußte die Kunde nicht zu berichten, was weiter geschehen war. Denn Philip Hasard Killigrew war spurlos verschwunden. Niemand hatte ihn mehr gesehen.
3.
Das Knarren der Rahen und Blöcke war vertraut – genauso wie die rollenden und stampfenden Bewegungen des Schiffes, das Klatschen der Wellen gegen die hölzerne Bordwand, das Trampeln nackter Füße über Deck, die Kommandos.
Der Seewolf richtete sich auf und betastete seine Schläfe. Die fühlte sich an wie rohes Fleisch.
„Hallo, Sir!“ sagte eine Stimme neben ihm. Sie klang so, als wisse sie noch nicht, ob sie sofort oder erst eine Woche später in eine tiefere Tonlage umsteigen solle.
Überrascht wandte der Seewolf den Kopf – etwas zu schnell, denn der Schmerz zuckte bis in die Zehenspitzen. Aber der Junge, der ihn angrinste, sah auch nicht viel besser aus – was dessen Kopf betraf.
Hasard grinste zurück.
„Hallo“, sagte er. „Du kennst mich?“
„Wer in Falmouth geboren ist, kennt Philip Hasard Killigrew, hinter dem die Weiber wie der Teufel hinter der armen Seele her waren.“
Der Bengel feixte so breit, daß er sich fast die Ohrläppchen abbiß.
Hasard räusperte sich.
Der Bengel feixte weiter.
„Mein Alter ist bei Sir John gefahren – oben in der Irischen See. Bei einem Gefecht mit einer schwedischen Kogge fehlte ihm plötzlich ein Bein. Sir John bestellte ihm bei dem verdammten Sargtischler von Falmouth ein neues. Kennen Sie die Geschichte, Sir?“
„Ist dein Vater etwa Donegal Daniel O’Flynn?“
Der Junge nickte.
„Ist er, und mit dem verdammten Holzbein hat er mir jeden Tag einen Tritt in den Hintern verpaßt, egal was anlag. Und dann sollte ich bei dem verdammten Sargtischler in die Lehre gehen. Da bin ich ausgerissen. Fein, daß ich Sie getroffen habe. Ich hab’s leider zu spät gemerkt, daß Sie das in der ‚Bloody Mary‘ waren, sonst wäre ich den Kerlen eher an die Gurgel gesprungen. Ich heiße übrigens wie mein Alter, Donegal Daniel, genannt Dan.“
„Danke, Dan – für die Hilfe bei der ‚Bloody Mary‘, Hat’s dich schlimm erwischt?“
Der Junge, der sitzend mit dem Rücken an einem Holzquerschott lehnte, richtete sich etwas auf.
„Ich bin doch ein O’Flynn, Sir. Und mein Alter hat sein Holzbein auch manchmal abgeschnallt und es mir um die Ohren geschlagen. Mit Holz klopft mich keiner mehr weich.“
Hasard lächelte. „Ich dachte immer, O’Flynn mit dem Holzbein hätte nur sechs Söhne gehabt.“
„Ich bin Nummer sieben, Sir. Nur hat mich der Alte immer unterschlagen. Ich sei zu dämlich, um in der Öffentlichkeit gezeigt zu werden, hat er gesagt. Finden Sie das auch, Sir?“
Aus dem Halbdunkel des Schiffsraums äffte eine Stimme: „Sir – Sir! Wenn ich den Scheiß schon höre. Euer Gequatsche geht mir allmählich unters Hemd. Zeig mal deine Schnauze, Sir, damit ich sie dir stopfen kann, Sir.“
Ein breitschultriger Mann tappte aus dem Halbdunkel heran. Hinter ihm begannen andere Stimmen zu murmeln.
„Los, gib’s ihm, Blacky, gib’s dem Sir. Und der Rotznase bei ihm versohl auch gleich die Jacke, damit das Bübchen weiß, woher hier der Wind weht.“
Der breitschultrige Blacky grunzte und stieß Hasard mit dem Stiefel an.
„Steh auf, Sir, damit du etwas davon hast, wenn du dich wieder schlafen legst.“
„Soll ich ihm ein Ding auf die Nase verpassen, Sir?“ wisperte Donegal Daniel O’Flynn, genannt Dan. Seine Stimme war scharf und zischend und verkündete, daß er vor Wut kochte.
„Das besorg ich, Dan“, sagte Hasard ruhig. „Bleib sitzen, mein Junge, und paß genau auf, wie man mit Idioten wie diesem Holzklotz das Deck aufwischt, zu mehr taugt er nämlich nicht.“
Blacky ächzte. „Sagtest du Holzklotz?“
Hasard schob sich an der Wand hoch, sehr langsam und sehr betulich. Als er stand, mußte er den Kopf einziehen, um nicht an die Decksbalken zu stoßen.
Der Breitschultrige mußte zu ihm hochstarren.
„Ich hab dich was gefragt, Sir.“
„Du bist ein Idiot und ein Holzklotz“, sagte Hasard, „und wenn du dir weh tust, fang nicht an zu jammern.“
Blacky nahm Maß und schlug