Seewölfe Paket 30. Roy Palmer
verwundert.
Die Arwenacks wandten sich zum wiederholten Male um, aber von ihrem Profos war noch nichts zu sehen.
„Vielleicht nimmt er noch einen Becher Rum zur Brust“, meinte Big Old Shane. „Es soll ja passieren, daß Ed vom Durst übermannt wird.“
Al Conroy winkte ab. „Er redete doch noch mit dem Wirt, als wir den Weinkeller verließen. Er wird uns schon einholen.“
„Einholen?“ Der weinselige Sam Roskill wischte sich mit einer schwerfälligen Geste über die Augen. „Mir – mir war, als hätte ich ihn bereits hinter uns gesehen …“
„Quatsch“, sagte Al. „Wenn du jemanden gesehen hast, war das allenfalls eins von Donegals Gespenstern. Und das hättest du eigentlich schon doppelt sehen müssen.“
Sam schüttelte heftig den Kopf.
„Nichts da“, wehrte er sich. „Gespenster sind unsichtbar. Ich – ich habe den Profos gesehen. Er war noch ein Stück von uns entfernt.“
„Nun hört schon auf, herumzustreiten“, sagte Smoky. „Vielleicht hat er von der Nachtluft eine trockene Kehle gekriegt und ist umgekehrt. Um unseren Profos brauchen wir uns nicht zu sorgen. Womöglich hat er einen anderen Weg zum Hafen eingeschlagen und befindet sich längst an Bord.“
„Hihihi!“ Old Donegal kicherte. „Oder eine hübsche Lady hat ihn in ihr Kämmerlein gelockt.“
„Jetzt – mitten in der Nacht?“ fragte Paddy Rogers, dessen Gedankenfluß vom reichlich genossenen Vinho verde ziemlich blockiert war. „Was will sie wohl von ihm?“
Die Mannen lachten.
„Sie wird ihm die hübschen Tüchlein zeigen, die sie tagsüber gehäkelt hat“, sagte Al Conroy grinsend.
Jetzt verstand Paddy überhaupt nichts mehr, zumal sich die anderen nicht zu weiteren Erklärungen hinreißen ließen. Sie legten vielmehr einen Schritt zu und erreichten bald den Steg, an dem die Schebecke lag. Ihre Rückkehr wurde von Plymmie, der Bordhündin, mit Schwanzwedeln und einem leisen Winseln angekündigt.
Nils Larsen und Bob Grey, die zu den „Blondies“ gehörten, gingen Wache und halfen beim Aufentern etwas nach, wenn der eine oder andere infolge der ausgiebigen Wein- und Rumprobe plötzlich Blei in den Gliedern zu haben glaubte.
„Wo habt ihr denn unseren Profos gelassen?“ fragte Nils Larsen. „Ist er etwa in ein Weinfaß gefallen?“
Al Conroy zuckte mit den Schultern.
„Frag mich was Leichteres. Wir dachten schon, er hätte einen anderen Weg eingeschlagen und sei bereits an Bord. Da dem nicht so ist, muß er noch in der Kneipe hocken. Er stand ja noch beim Wirt, als wir losmarschierten.“
Old O’Flynn nickte bestätigend.
„Bestimmt ist er am Schanktisch hängen geblieben. Der gute Ed kriegt den Hals mal wieder nicht voll genug.“
Für Nils Larsen war die Sache damit erledigt. Der Profos brauchte schließlich kein Kindermädchen. Außerdem würde der Wirt irgendwann seinen Laden schließen und Carberry höflich auf den Nachhauseweg schicken.
Doch Edwin Carberry kam nicht.
Auch in den frühen Morgenstunden, als die Sonne hinter dem Horizont hervortauchte, war noch nichts von ihm zu sehen und zu hören.
Das wiederum erschien den Arwenacks reichlich spanisch, und das Rätselraten um den Verbleib des Profos’ begann aufs neue.
Auch der Seewolf blickte immer häufiger zu den Gassen.
„Wir werden ihn systematisch suchen müssen“, entschied er schließlich. „Solange er nicht zurück ist, sind wir hier festgenagelt, und das könnte unter Umständen ziemlich riskant für uns werden.“
Er stellte mehrere kleine Suchtrupps zusammen. Die einen sollten die nähere Umgebung in Augenschein nehmen, die anderen würden sich noch mal den Weg zur Kneipe, die Kneipe selber und die Seitenstraßen ansehen.
Die Arwenacks taten das mit der ihnen eigenen Gründlichkeit, während an Bord weiterhin die verschiedensten Überlegungen angestellt wurden.
Sam Roskill, der während der Nacht behauptet hatte, Carberry gesehen zu haben, konnte sich im nüchternen Zustand nicht mehr daran erinnern. Und an die Geschichte mit dem Kämmerlein der hübschen Lady mochte auch niemand so recht glauben. So blieb für die Männer an Bord zunächst nur das Abwarten und die Hoffnung auf einen Erfolg der Suchtrupps.
Die Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht.
Die ersten Mannen meldeten sich nach gut zwei Stunden zurück. Von Edwin Carberry keine Spur.
„Ich habe mir den Wirt vorgeknöpft“, berichtete Al Conroy. „Er behauptete, Ed habe noch kurz mit ihm über die für heute vereinbarte Wein- und Rumlieferung gesprochen und sein Haus gleich nach uns verlassen.“
„Insofern ist es durchaus möglich, daß Sam ihn tatsächlich gesehen hat“, überlegte der Seewolf. „Aber es paßt verdammt noch mal überhaupt nicht zu Ed, daß er sich still und leise, so quasi hinter dem Rücken der anderen, verholt haben soll. Wäre er andererseits überfallen worden, hättet ihr doch etwas bemerken müssen.“
Der schwarzhaarige Stückmeister zuckte hilflos mit den Schultern. „Keiner von uns hat etwas bemerkt, ganz davon abgesehen, daß es nicht so einfach sein dürfte, Ed so mir nichts dir nichts zu überfallen.“
„Dennoch muß etwas passiert sein“, beharrte Hasard. „Er kann sich nicht in Luft aufgelöst haben. Wir werden weitersuchen, und wenn wir sämtliche Kneipen von Lissabon auf den Kopf stellen müssen.“
Bei ihren weiteren Überlegungen und Planungen wurden die Seewölfe zweimal gestört. Beim erstenmal wurden die von Carberry bestellten fünf Fässer Rotwein und drei Fässer Rum von den Schankknechten des kleinen, dicken Wirtes auf den Steg gekarrt und an Bord gebracht. Beim zweitenmal war es Jung Philip, dessen Stimme die Arwenacks aufhorchen ließ.
„Da törnt ein Mönch auf den Steg zu“, sagte er sachlich. „Ob der zu uns will?“
In der Tat näherte sich der Kuttenträger mit raschen Schritten. Nach Meinung der Männer, die am Vortag zur Proviantbeschaffung unterwegs gewesen waren, mußte es sich um einen jener Mönche handeln, die auf den Marktplätzen das mysteriöse Lebenselixier verkauft hatten.
„Vielleicht bringt er Nachschub, Mister O’Flynn“, bemerkte der Kutscher mit einem spöttischen Seitenblick zu Old Donegal.
Der Alte aber lächelte wieder einmal das Lächeln der Wissenden und hielt es für unter seiner Würde, auf die Bemerkung einzugehen.
Der Mönch, bei dem es sich um einen mittelgroßen, schlanken Mann handelte, nahm tatsächlich Kurs auf die Schebecke. Die frische Brise, die am Vormittag wehte, brachte seine lange, schwarze Kutte zum Flattern.
„Gott zum Gruß, Señores!“ rief er. „Ich bin Bruder Manuel und habe euch einen Brief zu übergeben.“
„Interessant“, sagte der Seewolf zu Ben Brighton. „Der Mann soll aufentern.“
Während sich die Arwenacks verwundert anblickten und überlegten, wer ihnen wohl hier in Lissabon einen Brief schreiben könnte, kam Bruder Manuel an Bord.
Der Mönch blickte sich suchend um, dem Seewolf entging nicht, daß er nervös war.
„Wem darf ich diesen Brief geben?“ fragte er.
„Am besten mir“, sagte Hasard und trat auf den seltsamen Besucher zu. „Ich bin der Kapitän.“
„Der – der Capitán?“ Für einen Augenblick schien es, als sei der Mann verblüfft. Dann aber deutete er auf das Stück Papier. „Der Brief ist an die Mannschaft der Schebecke gerichtet.“
„Egal, an wen er gerichtet ist“, fiel ihm der stets ruhige und besonnene Ben Brighton ins Wort. „Wenn es um die Belange unseres Schiffes oder unserer Mannschaft