Seewölfe - Piraten der Weltmeere 176. Roy Palmer
Meuterei.
Saunders rechnete mit einem Aufstand an Bord. Daß aber ausgerechnet Fagaralle der Aufwiegler sein würde, war für ihn ein echter Schock – mehr noch, etwas zerbrach in Curly Saunders.
Fagaralle zeigte sein wahres Ich.
Mit nur zehn gut bewaffneten Männern stürmte er an diesem allerschwärzesten Tag in Saunders’ Dasein das Achterdeck. Widerstand wurde seitens der Achterdecksleute kaum gezeigt. Der Franzose und seine Mitverschwörer sensten jede Verteidigung mit ihren Handwaffen nieder, und plötzlich hatte Fagaralle seinen einen Arm um den Hals des Bootsmannes geschlungen, hielt diesem mit der rechten Hand ein Messer gegen die Gurgel gedrückt und rief dem Kapitän, der eben seinen Degen zückte, zu: „Willst du diesen Mann sterben sehen?“
Saunders antwortete nicht, er stand mit wachsbleichem Gesicht auf dem eisbedeckten Achterdeck, fixierte den Verräter und zog seinen Degen ganz aus der Scheide.
„Captain“, stieß der Bootsmann hervor. „Mister Saunders, ich flehe Sie an …“
„Streich die Flagge, Saunders!“ schrie Fagaralle. „Du bist unfähig, dieses Schiff und diese Crew zu führen. Du hast den falschen Kurs eingeschlagen. Er führt uns immer weiter nach Norden hinauf, weit fort von Labrador und der großen Bucht der Häuptlinge! Und du suchst vergeblich nach einer östlichen Passage, die uns die Rückreise nach Neufundland ermöglicht. Du bist ein Versager, Saunders!“
„Fagaralle …“
„Fort mit dem Degen, Saunders, du Narr!“
„Fagaralle, du hast dir mein Vertrauen erschlichen …“
„Laß das Geschwätz und gib auf!“
„Wie konntet ihr auf diesen Mann hören?“ rief Curly Saunders. „Er ist ein aalglatter, doppelzüngiger Hundesohn, der euch alle ins Verderben stürzt, wenn ihm das gelingt, was er vorhat!“
„Streich die Flagge!“ schrien die Meuterer – und die Passiven, die auf der Kuhl standen und alles beobachteten, schwiegen dazu. Längst waren die Zeiten vorbei, in denen einige von ihnen sich noch für Saunders aufgeopfert hätten. Fast teilnahmslos wohnten sie der Szene bei. Sie trieb ihrem Höhepunkt zu – Fagaralle hatte den Bootsmann unverändert in seiner Gewalt, und der Rest des Meuterer-Trupps hatte die übrigen Achterdecksleute überwältigt. Saunders stand auf verlorenem Posten.
Fagaralle grinste plötzlich. „Ich verlange deine Kapitulation“, sagte er zu dem Kapitän. „Und du solltest noch froh sein, daß ich es auf diese Art und nicht im Zweikampf tue. Genausogut könnte ich dir jetzt eine Kugel durch den Kopf jagen lassen.“ Mit einer ruckartigen Kopfbewegung deutete Saunders auf einen seiner Komplicen, der eine Muskete in Anschlag gebracht hatte und damit auf Saunders zielte.
Curly Saunders sah nicht nur den Musketenschützen, er schaute auch auf seine treuen Kameraden, die auf dem eisglitzernden Deck in ihrem Blut lagen. Einige von ihnen regten, sich nicht mehr. Sie würden sich nie mehr bewegen.
Er verlor jede Beherrschung und sprang mit dem erhobenen Degen auf Fagaralle zu. Mit einem Wutschrei wollte er den Franzosen niederstechen, aber Fagaralle reagierte augenblicklich und stieß seine Geisel auf Saunders zu.
Ohne daß sich sein Geist richtig dessen bewußt wurde, nahmen Saunders’ Augen das Bild des Bootsmannes auf, der mit dem Messer im Hals auf dem eisglatten Deck ausrutschte und stürzte. Saunders konnte sich nicht mehr rechtzeitig bremsen und ausweichen. Er stolperte über den sterbenden Mann und verfehlte Fagaralle mit seinem Degen. Die Spitze stieß ins Leere.
Der Musketenschuß krachte, ehe Fagaralle die Radschloßpistole, die er jetzt aus dem Gurt gerissen hatte, auf den Kapitän der „Miß Hannah“ abfeuern konnte. Saunders brach getroffen zusammen. Sein letzter, ungläubiger Blick war auf den grinsenden Fagaralle gerichtet. In seiner Sterbeminute gelangte er zu der bitteren Erkenntnis, daß er ein riesengroßer Narr gewesen war.
Fagaralle trat zu dem Mann, der sein Leben auf den Planken seines Schiffes aushauchte, beugte sich über ihn und sagte triumphierend: „Saunders, mein Freund – hiermit trete ich deine Nachfolge an.“
„Fahr – zur Hölle“, flüsterte Curly Saunders.
Fagaralle schüttelte wie in aufrichtigem Bedauern den Kopf. „Tut mir leid, aber den Gefallen tue ich dir nicht. Ich weiß, es klingt überheblich. Aber überheblich bin ich nun mal.“
Er erhob sich, trat an die Schmuckbalustrade, die den vorderen Querabschluß des Achterdecks bildete, blickte auf die versammelte Crew hinunter und verkündete: „Ich habe das Kommando über dieses Schiff übernommen, und ich versichere euch, daß ich euch vor Kälte und Hunger und vor dem Tod bewahren werde. Wer sich mir anschließen will, der braucht sich jetzt nur zurück auf seinen Posten zu begeben. Wer die Karavelle lieber verläßt, kann dies tun, er wird in einem der Beiboote ausgesetzt und erhält ein wenig Proviant und Trinkwasser mit.“ Er legte seine Hände auf die hölzerne Leiste. „Nun?“
Die Männer murmelten etwas, nickten dann, wandten sich ab und begaben sich wieder an die Arbeit.
Nicht, daß sie Fagaralle vertrauten, aber wer war schon so dumm, zu glauben, daß der Franzose eventuelle Gegner friedlich ziehen ließ? Das Beiboot wurde gebraucht, nichts konnte man hier entbehren. Jeder, der sich jetzt dem neuen Kapitän gegenüber rebellisch zeigte, wurde erschossen, soviel war sicher. Oder aber er wurde an die Rahnock gebaumelt oder mit einem Gewicht an den Füßen in die eiskalte See geworfen.
Fagaralle gab seine Befehle. Er ließ die Segel neu trimmen, sagte dem Rudergänger, was er zu tun habe, und ließ die Zweimast-Karavelle nordöstlichen Kurs segeln.
Dies geschah Mitte des Monats Juni 1589.
Anfang Juli 1589 hatte Fagaralle die Karavelle längst auf den französischen Namen „L’Invulnérable“ umgetauft. „Die Unverwundbare“ segelte zwischen vorbeiziehenden Treibeisschollen nach Westen. Raumer Wind brachte sie rasch voran. Sie glitt über Steuerbordbug liegend dahin und drückte eine steile Bugwelle vor sich her.
Die Karavelle befand sich jetzt zwar noch weit nördlicher als während der Meuterei gegen Kapitän Saunders und die Achterdecksleute, deren Leichname tief unten auf dem Grund der See nördlich der riesigen Bucht der Häuptlinge ruhten. Aber die Mannschaft litt weder Hunger und Durst noch Kälte, und Fagaralle hatte allen glaubwürdig versichern können, daß er den Weg zurück nach Neufundland genau kenne.
Dieser, so behauptete er, führe jetzt am schnellsten im Norden um das Kap einer großen Insel herum und von dort aus in die Nähe der Küste von Grönland, jener Insel, die die Wikinger einst besiedelt hatten. Weiter ginge es nach Süden durch die Meeresstraße, die Davis vor zwei Jahren entdeckt und so benannt hatte – und dann war „Bacalaos“ nicht mehr fern. Jede Rückkehr nach Labrador und der Belle Isle wäre nur ein Umweg gewesen.
Fagaralle, davon war die Crew mittlerweile überzeugt, mußte es wissen. Er kannte sich in den Gepflogenheiten der Eskimos aus und wußte, wie man das Leben in der Polargegend ertrug. Nur hatte er all seine Kenntnisse für sich behalten, bis er Saunders erledigen und das Kommando an sich reißen konnte.
Davon hatte er immer geträumt – ein eigenes Schiff zu haben.
Schon einmal hatte sich ihm die Chance geboten, ein Schiff zu kapern – eine wunderschöne große Dreimast-Galeone fortschrittlichster Bauart. Aber Fagaralle und seinen Eskimos war es nicht gelungen, die Mannschaft dieses Seglers niederzumetzeln. Sie hatten eine furchtbare Niederlage erlitten und fliehen müssen – und dann hatte Ajataq, der Eskimohäuptling, mit seinen Kriegern eine gnadenlose Jagd auf ihn, den Franzosen, und die Abtrünnigen des Stammes veranstaltet. Fagaralle konnte noch froh sein, daß er ein Kajak ergattert hatte, mit dem er sich hatte absetzen können.
Unbändiger Haß stieg in ihm auf, wenn er an diese schimpfliche Episode aus seinem Leben zurückdachte. Sie lag knapp drei Monate zurück.
Jetzt hätte er die Möglichkeit gehabt, mit den Männern der großen Galeone abzurechnen, denn die Kanonen der ehemaligen „Miß Hannah“ konnten es wahrscheinlich mit den Batterien jener „Isabella“ aufnehmen.