Seewölfe - Piraten der Weltmeere 176. Roy Palmer
jeden Piraten-Überfall gewappnet zu sein. Solche Überfälle hatten gerade in der letzten Zeit arg zugenommen.
Fagaralle dachte in diesen Tagen hin und wieder daran, ob er die „Isabella“ und ihren höllischen schwarzhaarigen Kapitän wohl jemals wiedersehen würde.
Wohin war sie überhaupt gesegelt?
Fagaralle stand auf dem Achterdeck der „Invulnérable“, ganz in Eisbärfell gehüllt, und ließ seinen Blick zufrieden über das Hauptdeck wandern. Dreißig Männer hatte er noch unter sich – und die machten einen zufriedenen, fast verwegenen Eindruck.
Der Kabeljau, den sie einst gefischt hatten, war längst aufgegessen, aber Fagaralle hatte die Männer in der Jagd auf Robben, Narwale, Walrosse, Eisbären und andere Polartiere unterrichtet. Auch auf eine Herde Rens waren sie gestoßen, als sie das letzte Mal auf der großen Insel im Osten gelandet waren, und diese hatten ihnen nicht nur ihr vorzügliches Fleisch, sondern auch ausreichend Fell für warme Kleidung geliefert. Die ausgekochten Speckseiten der Narwale wurden in den Bordöfen und im Kombüsenherd verfeuert, so daß man sich wieder ausreichend wärmen konnte.
„Dies ist nur der Anfang“, sagte Fagaralle, als er eine kurze Ansprache an „seine“ Mannschaft hielt. „Ich habe euch vor dem sicheren Tod bewahrt, aber ich werde euch auch zu Reichtum verhelfen. Gemeinsam sind wir stark genug, um uns all das zu holen, was man durch die Fischerei oder jede andere Art mühseliger Arbeit doch nie kriegen kann.“
„Hoch lebe Fagaralle!“ schrien die Männer der Karavelle. „Ein dreifaches Hurra für unseren Kapitän!“
2.
Ipiutak konnte wieder lächeln.
Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, hatte sie an Bord seiner „Isabella“ bis nach Qanaq, Thule, gebracht, und noch während der Überfahrt hatte sich der Kutscher redlich um die Frau von Okvik, dem Häuptling des Stammes der Jäger, bemüht.
Der Kutscher hatte Ipiutak die Musketenkugel aus dem Rücken geholt, die die räubernden Wikinger ihr verpaßt hatten.
Er hatte sie vorgezeigt und aufatmend gesagt: „Gott sei Dank, da ist sie ja – und ich glaube, die Frau hat keine schwerwiegenden inneren Verletzungen erlitten. Die Wirbelsäule ist unversehrt, und auch die Lunge scheint nicht angekratzt zu sein. Also, ich will ja nicht zuviel versprechen, aber ich schätze, sie kommt rasch wieder auf die Beine.“
„Kutscher“, sagte der Seewolf, als sie in der großen Bucht von Thule eintrafen. „Wenn du damit recht behältst, kriegst du von mir mehr als nur eine Sonderration Rum.“
Der Kutscher lächelte – ein wenig verlegen und auch ein bißchen verschmitzt. „Aus dem Rum mache ich mir gar nicht soviel, Sir. Mir ist es ja viel mehr wert, wenn man meine Arbeit würdigt.“
„Tun wir das denn nicht?“
„Selbstverständlich, Sir.“
„Dann verstehe ich nicht, wie du das eben gemeint hast.“
Der Kutscher wurde sichtlich verlegen und druckste herum, was er sonst eigentlich nicht tat, aber eine Erwiderung auf die Worte des Seewolfs konnte er sich vorläufig ersparen, denn Ipiutak schlug die Augen auf, lächelte und formulierte mit schwachen, blassen Lippen die Namen ihres Mannes und ihrer Tochter.
„Okvik – Bilonga …“
Okvik und Bilonga, die die ganze Zeit über in der Achterdeckskammer der „Isabella“ auf dem Rand einer zweiten Koje gekauert hatten, standen auf und beugten sich über das Lager der Patientin. Bilonga hielt ihre Tränen nicht zurück, es waren Tränen der Freude und Zuversicht. Okvik, dessen Miene man sonst so wenig Gefühlsregungen ablesen konnte, zeigte offen seine Ergriffenheit. Auch ein Jäger aus dem eisigen Thule, und sei er noch so hart, brauchte sich in einem Augenblick wie diesem seiner Gefühle nicht zu schämen.
Hasard trat dicht neben den Kutscher. Sie standen beide am Fußende der Koje und nickten Ipiutak, Okvik und Bilonga aufmunternd zu. Der Kutscher hatte die Frau nicht nur operiert, er hatte mit seinen Arzneien und Mixturen auch ihren Blutverlust zum Stoppen gebracht, die Wunde nach allen Regeln der Feldscherkunst gesäubert und keimfrei gemacht und Ipiutak dann einen Verband aus blütenweißem Leinenstoff angelegt.
„Ja, unser Kutscher“, sagte der Seewolf versonnen. „Wenn wir dich nicht hätten, was wäre dann? Aber ich glaube, du würdest ein dickes Lob viel lieber aus dem Mund von Siri-Tong hören, was? Ich schätze, das hast du sagen wollen, als du von einer entsprechenden Würdigung deiner Arbeit sprachst.“
Der Kutscher wurde rot bis an die Ohren, puterrot sogar. Er fuhr sich mit der Hand übers Kinn und suchte verzweifelt nach Worten.
Hasard hatte natürlich den Nagel auf den Kopf getroffen. Als Siri-Tong am Ufer des Fjords, in dem die Seewölfe Walrosse gejagt hatten, von Okviks Bas, dem Leittier der Schlittenhundmeute, an Händen und Armen verletzt worden war, hatte der Kutscher ihr die Wunden behandelt. Sie hatte sich daraufhin bewundernd geäußert, weil ihre Schmerzen wirklich rasch vergangen und dann auch nicht wiedergekehrt waren – und der Kutscher war mächtig stolz darüber gewesen.
„Sir“, sagte er. „Ich möchte nicht, daß du einen falschen Eindruck von mir kriegst.“
„Welchen denn?“
„Du weißt schon, was ich dir erklären will …“
„Nein.“
„Also, was mich betrifft, ich würde es Madam gegenüber nie an dem nötigen Respekt mangeln lassen. Das will ich dir nur hoch und heilig versichern.“
Hasard legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ich weiß doch, daß die ganze Crew die Rote Korsarin anhimmelt, und das kann ich auch keinem von euch übelnehmen. Genausogut weiß ich aber auch, daß kein Mann auf diesem Schiff außer mir sie auch nur mit dem kleinen Finger anrühren würde. Ich vertraue euch und verlasse mich auf euch.“
„Danke, Sir.“
„Ist jetzt soweit alles in Ordnung?“
„Ja. Aber ich glaube, die Sonderration Rum würde ich jetzt doch ganz gern annehmen.“
„Genehmigt“, sagte der Seewolf. Damit wandten sie sich wieder dem Krankenlager zu und versuchten, mit ihren wenigen Brocken Eskimo-Sprache und durch Gestikulieren Okvik und Bilonga auseinanderzusetzen, daß Ipiutak jetzt Ruhe brauche, sehr viel Ruhe.
Der Stammesführer und seine Tochter begriffen es mehr intuitiv als den Worten Hasards und des Kutschers nach. Sie bedeuteten ihnen durch Gebärden, daß sie sich ganz nach den Anweisungen ihrer weißen Freunde richteten – und dann hob Okvik plötzlich den Kopf, lauschte und sagte: „Qanaq – Thule.“
Stimmen waren zu vernehmen, sowohl vom Oberdeck der „Isabella-VIII.“ aus als auch von weiter her.
Ipiutak ließ einen freudigen Laut vernehmen, dann schloß sie wieder die Augen und atmete tief und gleichmäßig durch.
Okvik und Bilonga drängten zur Tür der Achterdeckskammer. Hasard öffnete sie, und die beiden Eskimos traten auf den Gang hinaus und begannen mit der alten Frau zu sprechen, die die ganze Zeit über draußen im Halbdunkel und in der Kälte gehockt hatte, als müsse sie dort Wache halten.
Sie war, wie Hendrik Laas dem Seewolf erklärt hatte, die Mutter Okviks. Als die Wikinger das Igludorf überfallen hatten, hatte sie dortbleiben und sich töten lassen wollen, aber Ipiutak und Bilonga hatten sie bei der Flucht in die Berge mitgeschleppt.
Ein Aufleuchten war in den kleinen dunklen Augen der Alten, und auch ihre Züge hellten sich auf, denn Okvik hatte ihr soeben gesagt, daß Ipiutak auf dem Weg der Genesung sei.
Siri-Tong näherte sich vom Schott, das auf die Kuhl hinausführte, und sagte aus drei Schritten Entfernung: „Wir sind da. Die Eskimos bereiten uns einen großartigen Empfang. Woher wissen die überhaupt, wer wir sind?“
„Erstens segelt die ‚Sparrow‘ von Hendrik Laas neben uns her“, erwiderte