Seewölfe - Piraten der Weltmeere 81. Cliff Carpenter
Zuerst handelte Ferris Tucker.
Nur ein Mann wie er brachte es fertig, die Zimmermannsaxt mit dieser Wucht zu führen. Von unten, mit einem verzweifelten Streich, hinter dem jedes Quentchen Kraft steckte, schlug er zu.
Die messerscharfe Schneide klopfte nicht nur an, sondern durchbrach den Boden des Bootes. Sie erwischte knapp noch den Fuß des Henkers.
Den Schrei, den El Verdugo ausstieß, hörten nur jene, die nicht weggetaucht waren.
Hasard richtete sich auf, stemmte den Rücken unter den Kiel des Bootes und wunderte sich, wie leicht er das Gewicht hochdrückte.
Aber mit ihm arbeiten die anderen. Und zwei von ihnen hatten das Glück, Boden unter den Füßen zu haben, eine Sandbank, wie sie zwischen Insel und Festland nicht eben selten waren und die Schiffahrt zu einem lebensgefährlichen Abenteuer werden ließen. So manches spanische Versorgungsschiff, das von Cayenne aus Kurs auf die Teufelsinsel genommen hatte, war auf diesen tückischen Bänken schon aufgelaufen.
Das Boot der Spanier wurde angekippt und schlug nach der Backbordseite um. Die Spanier flogen kopfüber ins Wasser. Sie landeten mitten zwischen den Engländern. Das konnte natürlich nicht gutgehen.
Prompt landete denn auch ein schmächtiger Spanier in Reichweite des wütenden Profos, der sich nur knapp umschaute, ob Old Donegal noch an ihm hing.
Old Donegal schluckte, prustete und schnappte zwischendurch nach Luft. Auch wenn man in dieser ägyptischen Finsternis keine Einzelheiten sehen konnte: sicher war er blau wie ein Tintenfisch, angelaufen von Luftmangel. Was hatte er den gesunden Lungen des mächtigen Profos‘ schon entgegenzusetzen? Immerhin verrieten die würgenden hustenden Laute, daß er noch lebte. Und schon versuchte er zwischendurch, seinen muskulösen Freund anzufeuern. Denn er hatte wohl erkannt, daß der Spanier, der da mühsam den Kopf über das Wasser reckte, vor Angst tollkühn angriff.
„Komm her, du Rübenschwein!“ grollte der grimmige Profos.
Carberry streckte die Pranken aus und erwischte den Spanier an der Gurgel. Liebevoll zog er ihn mit einem Ruck heran. Die Fäuste des Spaniers prallten wirkungslos vom Rammkinn des Profos‘ ab. Carberry grinste gelangweilt, ließ den zappelnden Kerl frei und verpaßte ihm einen Hammerschlag mitten auf den Kopf.
Der Spanier verschwand unter Wasser.
Carberry schloß sich den anderen an, die wieder Kurs nahmen. Sie bewegten sich alle in die Richtung, in der sie das Festland vermuteten. Aber Gewißheit gab es bei diesem Hundewetter für keinen. Der Gedanke, daß man mit aller Kraft immer weiter ins offene Meer hinausschwamm, hatte etwas Lähmendes.
Trotzdem gab niemand auf. Sie schleppten sich weiter. Lieber ein Ende mit Schrecken, als unter der Knute des Henkers, den alle in Gedanken verfluchten, qualvoll einen höllischen Tod zu erleiden. Im übrigen gab es kein Zurück mehr. Denn niemand konnte gegen den Strom anschwimmen, der an der Teufelsinsel vorbeitrieb.
Das Festland schien noch fern. Stets wenn sie die müden Köpfe über die Schaumkämme reckten, um nach dem Land Ausschau zu halten, wurden sie enttäuscht. Endlos und wild bewegt dehnte sich die Wasserfläche vor ihren suchenden Blicken.
Hätte es nicht hin und wieder die Sandbänke gegeben, sie alle wären ertrunken. So aber konnten sie von Zeit zu Zeit etwas Kraft sammeln und sich in der Hoffnung wiegen, vielleicht doch nicht allzuweit vom Land entfernt zu sein.
Kraft zur Verständigung hatten sie längst nicht mehr.
Immer wieder war es Hasard, der das Zeichen zum Aufbruch gab und losschwamm, ohne allerdings die beruhigende Gewißheit zu haben, wann sie in angemessener Entfernung wieder eine Ruhepause einlegen konnten.
Was bedeutete es da, daß sie die spanischen Verfolger zunächst abgeschüttelt hatten? Am Ende schien doch der Tod auf sie zu lauern.
Hasard selbst mußte seinen ganzen Mut zusammennehmen. Er wußte selbst keine Antwort auf die Frage, ob er diese Flucht ins Ungewisse angetreten hätte, wenn ihm auch nur ein Bruchteil der Schwierigkeiten und Strapazen bekannt gewesen wären, mit denen sie jetzt konfrontiert wurden.
Das Seewasser fügte den Qualen eine weitere zu. Wer offene Wunden hatte – und das war bei den meisten der Fall –, litt furchtbar. Das biß und fraß, daß man kaum die Arme beim Schwimmen zu bewegen vermochte.
Smoky, der immer noch an der Schulter blutete, schnappte sich ein Stück Treibholz und schlug seine Zähne hinein, um seinen Retter nicht durch sein Stöhnen zu verunsichern.
Dabei plagte ihn die gräßliche Vorstellung, seine blutende Wunde könne den mordgierigen Haien eine Fährte legen. Das würde das Aus für sie alle bedeuten. Mit den Spaniern konnten sie fertig werden, aber gegen Haie hatten sie keine Chance. Da konnten sie nur noch beten.
Die Nacht schien kein Ende zu nehmen. Kein Silberstreif über der Kimm flößte den Verzweifelten neue Hoffnung ein. Sie wußten nicht mehr, wie lange sie unterwegs waren. Ihr Zeitgefühl war längst erstorben. Das Leben bestand nur noch aus den zermürbenden Bewegungen der Arme und Beine, die den Körper anscheinend um keinen Inch vorwärtsbrachten.
Was wollte es da schon heißen, daß der Sturm abgeflaut war und kein Regen mehr fiel? Dieses Grau um sie herum und über ihnen, diese endlose Monotonie brach auch die Widerstandskraft des Stärksten.
Wozu sich noch anstrengen, wenn doch alles umsonst war? Sie hatten den Kurs verloren, kein Zweifel. Seit über einer Stunde hatten sie keine Sandbank mehr erreicht und damit keine Gelegenheit gehabt, sich ein wenig zu verschnaufen. Ihre Arme und Beine waren schwer wie Blei. Entzündete Augen hatten es aufgegeben, nach Land zu suchen.
Die Möglichkeit, daß sie sich immer weiter im Meer verloren, nahm erschreckend zu. Mancher der Seewölfe, glücklicher Besitzer eines Messers, spielte bereits mit dem Gedanken, sich die Klinge über beide Handgelenke zu ziehen und anschließend in den Bauch zu rammen. Das mußte eine Erlösung sein gegenüber der Qual des Schwimmens.
Dann wagte sich zum ersten Male der Mond hinter Wolkenbänken hervor. Sein mildes Licht fiel auf die sanft gekräuselte Wasserfläche. Sie erkannten Nachbarn und Leidensgefährten. Sie hatten sie die ganze Zeit neben sich gewußt, aber nicht deutlich erkannt. Jetzt unterschieden sie Gesichter und sahen, daß der andere ebenso schlecht dran war und mit dem letzten Funken Kraft gegen den Untergang kämpfte. Das spornte an. Wieso schaffte der es noch? Da konnte man nicht aufgeben. Nicht eher, als bis der andere auch aufgab.
Die Seewölfe kämpften sich stumm und verbissen weiter vorwärts. Wohin? Wo in diesem elenden Meer war vorn, wo hinten? Wo offenes Meer, wo die Küstenlinie, die sie herbeisehnten?
Niemand wußte es.
Jeder sah Hasard da vorn und folgte ihm. So war es immer gewesen. Sie waren nicht schlecht dabei gefahren. Sie hielten sich auch jetzt an ihn.
Ohne es zu ahnen, trug Hasard die Hoffnungen seiner Männer. Er wußte nur, daß er kein Recht hatte, aufzugeben. Nicht, solange er noch Atem schöpfen konnte. Und wenn die Arme ihm abfielen – er mußte weiterschwimmen. Denn er hatte diese Flucht befohlen.
Er trug keine geringe Verantwortung. Er konnte sich alles leisten, nur durfte er seine Männer nicht enttäuschen. Das war ihm klar. Das gab ihm Kraft, auch dann, als er glaubte, er habe keine mehr.
Mit der Gleichmäßigkeit seiner Bewegungen flossen auch Hasards Gedanken. Immer wieder stellte er sich vor, was er auf der Teufelsinsel gelitten hatte. Das hinderte ihn daran, aufzugeben.
So seltsam es klang: El Verdugo, der Henker, den hoffentlich die Haie geholt hatten, größter Feind und Peiniger der Seewölfe, wurde in diesen einsamen Stunden Hasards stummer Verbündeter. Der Gedanke an ihn und seine grausamen Schikanen erfüllten ihn mit einer solchen Wut, daß er davon mehr vorwärtsgetrieben wurde, als würde er ein Dutzend Hiebe mit der neunschwänzigen Katze empfangen. Schmerzen, wenn sie überhand nahmen, stumpften ab und hinderten niemanden daran, zusammenzubrechen. Ganz anders der Haß. Er weckte die Lebensgeister und fachte erlahmende Kräfte wieder an.
Hasard stellte sich immer häufiger die ekelhafte Schinderfratze des spanischen