Seewölfe Paket 9. Roy Palmer
Richard Binghams sackte zusammen, ohne sich mit einem Wort oder Laut über die rüde Behandlung zu beklagen.
Shane, Ferris, Dan und der Kutscher pirschten weiter, fanden die Steintreppe, die gewunden in das Kellergewölbe hinabführte, und folgten ihrem Verlauf.
Wenig später traten noch einmal die Spaken in Aktion. Diesmal knüppelten Shane, Ferris und Dan auf die zwei Wachtposten vor dem Zugang zum eigentlichen Kerker ein. Es war das Pech der Gardisten, daß sie keine Helme trugen.
Der eine Soldat wollte seine Muskete in Anschlag bringen und abdrücken. Beinah wäre es ihm auch gelungen, was zur Folge gehabt hätte, daß sämtliche Wachen, die Bingham in seinem „Gouverneurspalast“ zurückgelassen hatte, zusammengelaufen wären und Shane, Ferris, Dan und dem Kutscher den Rückweg abgeschnitten hätten. Zwei oder drei Mann hätten genügt, um die Kellertreppe zu bewachen und den Männern der „Isabella“ die Hölle heiß zu machen.
Gerade noch rechtzeitig verpaßte Big Old Shane dem Soldaten den entscheidenden Hieb. Ächzend sank auch dieser Mann zusammen. Er blieb reglos neben seinem Kameraden liegen.
Der Kutscher hatte die Muskete aufgefangen, die dem Gardisten entglitten war. Behutsam löste er die Spannung des Hahnes und führte den Hahn mit dem Daumen in Sicherungsposition auf die Pfanne des Steinschlosses zurück.
„Hast du auch nicht zu hart zugeschlagen?“ fragte Ferris den graubärtigen Riesen.
Der Kutscher beugte sich über die Soldaten. Nach einer kurzen Untersuchung stellte er fest: „In Ordnung. Sie leben beide noch, sind nur bewußtlos.“
Ferris entnahm dem einen Gardisten ein Schlüsselbund und probierte an der Gittertür, die sie vom Verlies trennte, einen Schlüssel nach dem anderen aus. Dann hatte er den richtigen gefunden, und sie hasteten in den dunklen, feuchten Gang zwischen den Zellen, zu den sieben ausgemergelten Gestalten, die sie völlig entgeistert anblickten.
Der erste Offizier Vega de la Torre staunte noch mehr, als er die fremden Männer in tadellosem Spanisch erklären hörte, was der Grund ihres Besuches sei, und was sie sonst noch vorhatten.
Rasch waren die Zellentüren geöffnet. De la Torre standen die Tränen in den Augen, als er in den Gang hinaustaumelte, und er schämte sich dessen nicht. Er blickte zu Juan Flores, trat zu ihm, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte leise: „Du brauchst keine Gewissensbisse zu haben. Ich habe begriffen, warum du gesprochen hast. Du hast es zu unserem Besten getan – und für die Mannschaft an Bord der ‚Gran Grin‘.“
„Dennoch bin ich gescheitert“, erwiderte Juan bedrückt. Er hatte ihnen ja berichtet, daß die Galeone auf die Klippen gelaufen war – und was der Henker Bingham vorhatte.
„He“, raunte Ferris Tucker ihnen zu. „Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Vorwärts. Wir müssen uns mächtig beeilen.“
Sie verließen den Kerker, hetzten die wuchtigen Treppenstufen hinauf und konnten die Kommandantur ungesehen durch die kleine Tür verlassen, die sie auch zum Eindringen benutzt hatten. Ebenso ungehindert gelangten sie zu der Pier, an der die „Isabella“ und die „Vengeur“ zum sofortigen Auslaufen warteten.
„Kutscher“, sagte Shane etwas außer Atem, als sie an Bord geklettert waren und die Schiffe nebeneinander her in die Bucht hinausrauschten. „Du hattest also doch recht. Dieser Doc Wheeler hat uns nicht hereingelegt.“
Der Kutscher nickte. „Ich wette, er steht irgendwo in einem der Häuser dort hinter einem Fenster und beobachtet uns. Er darf jetzt aufatmen. Sein Gewissen ist rein.“ Er wandte sich zu den Spaniern um, die gerade vom Seewolf begrüßt wurden. „Senores“, sagte der Kutscher. „Bisher habe ich leider keine Gelegenheit gefunden, aber lassen Sie sich jetzt ein wenig Lebertran einflößen. Sie werden staunen, wie rasch der Ihnen wieder auf die Beine hilft.“
Die „Isabella“ und die „Le Vengeur“ segelten nicht westwärts, wie Bingham es von ihren Kapitänen verlangt hatte. Sie rauschten hoch am Wind mit Backbordhalsen und auf Steuerbordbug liegend nordwärts zu den kleinen, dem Buchtufer vorgelagerten Inseln.
Von Westport aus konnten sie nicht mehr beobachtet werden, denn die Stadt lag an einer kleinen Bucht, die nach Osten verlief – beide Schiffe befanden sich also für die Wache der Kommandantur, die jetzt das Verschwinden der Gefangenen bemerkt hatte, im toten Blickfeld. Das war gut so, denn auf diese Weise würde kein Bote lospreschen, um Bingham darüber zu unterrichten, daß die „lieben Freunde“ zu ihm unterwegs waren.
Das Wetter hatte sich beruhigt. Nur eine mäßige Dünung kräuselte das Wasser der Bucht. So war es selbstverständlich, daß Bill, der Ausguck, etwa eine halbe Stunde nach dem Auslaufen an Steuerbord der „Isabelle“ die „Flotte“ des Sir Richard Bingham sichtete, die sich viel dichter unter Land nach Norden bewegte.
Ebenso selbstverständlich war es, daß auch Bingham die „Isabella“ und die „Vengeur“ erspähte.
„Er wird sich die Haare raufen und mit den Zähnen knirschen“, sagte auf der „Vengeur“, die jetzt in Kiellinie hinter der „Isabella“ lief, Jean Ribault zu Karl von Hutten. „Was meinst du, ob unser übergewichtiger Freund wohl ahnt, was wir vorhaben, oder ob er glaubt, wir hätten uns im Kurs geirrt?“
Karl lachte. Er hatte durchs Spektiv zu den beiden Schaluppen und den vier Einmastern hinübergeblickt und gesehen, daß vom „Flaggschiff“ des stolzen Verbandes aus signalisiert wurde. „Er gibt uns Zeichen. Wir sollen beidrehen.“
„Husten werden wir dem was, nicht wahr, Sir?“ sagte auf der „Isabella“ Ed Carberry zum Seewolf.
„Natürlich, Ed. Wir halten unter Vollzeug auf die ‚Gran Grin‘ zu und erreichen sie so zeitig, daß Bingham nur noch das Nachsehen hat.“
„Man müßte ihm trotzdem noch eins auswischen.“
„Das tun wir auch, Ed“, sagte der Seewolf. „Warte nur ab.“
Kapitän Pedro de Mendoza glaubte zu träumen. Gaukelte der beginnende Wahn ihm Trugbilder vor? War diese Vision die letzte große seelische Qual, die er durchstehen mußte, ehe er zum Sprung über die düstere Schwelle ansetzte?
Mit schwachen, zittrigen Knien stand er auf der Back seines zertrümmerten Schiffes und blickte zu der dreimastigen Galeone. Auffallend hoch waren ihre Masten, flach die Aufbauten, und auf dem Achterdeck glaubte der Spanier ein Ruderhaus zu erkennen.
Ein Schnellsegler, dachte er.
Die Galeone schob sich näher und näher heran, und nach Süden sicherte eine zweimastige Karacke, deren Lateinersegel von einer flinken, kundigen Mannschaft aufgegeit wurden.
Auch die Galeone geite ihre Segel auf, und dann wurden zwei große Beiboote abgefiert und bemannt. Sie lösten sich von den Bordwänden der Galeone. Je sechs Rudergasten pullten sie mitten zwischen die Inselklippen – und dann wußte de Mendoza plötzlich, daß er keinem grausamen Traum erlegen war. In den Jollen erkannte er jetzt deutlich genug zwei seiner Männer – de la Torre und Francisco Sampedro. Mehr tot als lebendig sahen sie aus, wandelnde Skelette, aber sie konnten lachen, winken, rufen, die erlösende Nachricht überbringen.
„Capitán! Wir haben es geschafft! Senor Capitán – El Lobo del Mar ist erschienen, um uns zu helfen!“
Erlösung, ja, aber wenige Minuten später, als die Männer der Jollen zu ihm und den anderen an Bord der „Gran Grin“ kletterten, hatte de Mendoza doch wieder den Eindruck, vom Regen in die Traufe geraten zu sein. El Lobo del Mar, der Seewolf – der große Schwarzhaarige, der jetzt auf ihn zutrat, wer hatte von ihm nicht schon gehört? Spaniens Todfeind. Und dieser Mann sollte jetzt allen Ernstes vorhaben, ihm Beistand zu leisten, ihn und den letzten Rest der Mannschaft aus dieser tödlichen Klemme zu holen?
Hasard blieb vor de Mendoza stehen und streckte die Hand zum Gruß aus.
„Sagen Sie nichts, Senor“, erklärte er in seinem tadellosen Spanisch. „Ich weiß auch so, was Sie denken. Der Feind wirft keinen rettenden Anker, nicht wahr? Ich gestehe, ich war mit dabei, auch vor Calais. Aber bei allem, was Sie über mich gehört