Seewölfe Paket 9. Roy Palmer
Westküste entlang – aber Spanien, Bilbao, das geliebte Baskenland lagen immer noch in unerreichbarer Ferne.
Blessuren. Skorbut. Darmerkrankungen wie Typhus und Diarrhöe. Kein ausreichender Proviant mehr an Bord, und in den Fässern unter Deck faulte das Trinkwasser dahin.
Jetzt, im Sturm, wuchs die Verzweiflung ins Grenzenlose.
„Ich will sterben“, flüsterte Juan Flores. „Es ist das Beste, wenn wir alle sterben.“
Der Feldscher konnte die jammernden Kranken nicht beruhigen, er brüllte sie jetzt an, um sie einzuschüchtern. Die ‚Gran Grin“ hob ihren Bug auf einem heranrollenden Brecher, wieder geriet das Logis in wilde Bewegung. Die Kupferkessel kollerten nach achtern und krachten gegen die Wand.
Miguel fiel aus seiner Koje. Seine ausgemergelte Gestalt rutschte über die Planken. Juan hatte es gesehen, er richtete sich auf, streckte die Arme aus und fing den Freund auf. Er hielt Miguel fest und redete auf ihn ein, aber dann erstarrte er, denn er hatte festgestellt, daß er einen Toten in den Armen hielt.
Mit einem Aufschrei ließ Juan ihn los. Er sprang auf und verließ torkelnd das Logis, fand durch den finsteren Gang den Weg zum Niedergang, stolperte die Stufen hoch, stürzte durchs Schott auf die Kuhl und ans Schanzkleid.
Der Sturmwind heulte, ein neuer Brecher ergoß sich rauschend und gischtend über das Schiff. Juan Flores wehrte sich nicht dagegen, daß die Naturgewalt ihn packte, um ihn außenbords zu heben.
Aber Hände, so stark wie Eisenklammern, hielten den 18jährigen plötzlich an den Schultern fest. Francisco Sampedro war Juan nachgeeilt und verhinderte es, daß der junge Mann seinem Leben selbst ein Ende bereitete. Er ließ Juan nicht mehr los, auch nicht, als der sich vornüberbeugte und spuckend und würgend der See opferte. Er zerrte ihn schließlich vom Schanzkleid fort, in die Kombüse, wo er ihm einen bitteren Trank aus einer kleinen Flasche einflößte.
„Eins unserer letzten Medikamente“, sagte Sampedro. „Es ist nicht mehr viel, aber es wird dir helfen, dein Fieber zu überstehen – und deine Verzweiflung.“
Juan hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Ein trockenes Schluchzen schüttelte seinen Körper. Plötzlich aber riß er sich von Sampedro los, sprang auf und wollte wieder auf die Kuhl hinaus.
Sampedro war schneller als er. In dem schwankenden Raum verstellte er ihm den Weg und rammte ihm die Faust unters Kinn. Juan prallte zurück, fiel auf den Rücken und blieb vor dem erloschenen Holzkohlenfeuer liegen, über dem ein mächtiger Kupferkessel an einer dicken Eisenkette hin- und herschwang.
„Du wirst wieder auf die Beine kommen!“ brüllte Sampedro ihn an. „Du bist es deiner Familie schuldig, die zu Hause auf dich wartet! Du wirst keine Dummheiten mehr anstellen – das ist ein Befehl!“
Juan Flores richtete sich halb auf und schüttelte seine Benommenheit ein wenig ab. Er fühlte sich trotzdem noch elend, spürte Tränen in seinen Augen brennen, aber der Drang zur Selbstvernichtung war vorbei.
„Ein Befehl“, antwortete er. „Si, Senor. Ich werde wieder gesund. Ich werde zu Hause allen erzählen, daß Miguel ein Held war, auf den jeder Baske stolz sein muß …“
Der schwere Sturm aus Südwest fegte an der irischen Westküste entlang. Der Wind orgelte und pfiff durch die Clew Bay, die sich südöstlich von Achill Head, dem westlichsten Küstenzipfel vom Mayo-County, erstreckte. Er leckte zornig über die dreimastige Galeone, die zweimastige Karacke und die kleineren Einmaster weg, die geschützt und gut vertäut im Hafen von Westport lagen. Er rüttelte an der Tür und an den Fenstern der Häuser, als verlange er, eingelassen zu werden, aber niemand war so töricht, auch nur einen Schritt ins Freie zu tun – einschließlich des beleibten Mannes, der im größten Gebäude von Westport hinter einem abgewetzten Eichenholzpult saß und seine beiden Besucher abschätzend musterte.
Einer dieser Besucher war sehr groß, breitschultrig und schwarzhaarig. Das Auffallende in seinem Gesicht waren die eisblauen Augen, die Verwegenheit und Intelligenz ausdrückten, und die Narbe, die von der Stirn aus über seine eine Gesichtshälfte verlief.
Der andere Mann war von schlanker, geschmeidiger Gestalt, dunkelhaarig und dunkeläugig, und dem Akzent nach, mit dem er englisch sprach, weder ein waschechter Engländer noch ein Schotte noch ein Ire.
„Philip Hasard Killigrew“, wiederholte der dicke Mann hinter dem Pult den Namen des schwarzhaarigen Riesen. Er heftete seinen Blick auf den anderen. „Und wie ist Ihr Name?“
„Jean Ribault“, erwiderte der Franzose mit dem Anflug eines Lächelns. „Um gleich auf weitere mögliche Fragen einzugehen, werter, Sir Richard Bingham – die Karacke, die Sie dort draußen sicher vertäut liegen sehen, heißt ‚Le Vengeur‘, und ich bin mit Karl von Hutten zusammen ihr Eigner. Ich habe wie Mister Killigrew ein paar Mann als Deckswache an Bord zurückgelassen, der Rest der Crew hat die offenbar einzige Kneipe dieses idyllischen Städtchens aufgesucht, während wir Ihnen unsere Ehrerbietung erweisen, indem wir Sie sogleich besuchen – Sie, den Gouverneur von Westport.“
Hasard konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen. Jean war für seine salbungsvollen Reden bekannt. Keiner außer ihm konnte jemandem so großartig Honig um den Bart schmieren und ihn gleichzeitig auf den Arm nehmen.
Daß Bingham nicht zu dem Schlag Menschen gehörte, mit denen man spontan Freundschaft schließen konnte, hatten Hasard und Jean auf den ersten Blick festgestellt.
Bingham kratzte sich am Kopf. „‚Le Vengeur‘, Ribault, von Hutten – mit diesen Namen kann ich nicht viel anfangen. Ich höre sie zum erstenmal, um ehrlich zu sein.“
„Ehrlichkeit ist eine Tugend“, erwiderte Jean, wobei er den dicken Mann für alles andere als eine aufrichtige Natur hielt.
„Etwas anderes ist es bei Ihnen, mein lieber Killigrew“, sagte Bingham. „Sie, Ihre Crew und die ‚Isabella VIII.‘ – mir ist da so allerlei zu Ohren gekommen. Man hat Sie doch den Seewolf getauft, nicht wahr?“
„Das ist richtig“, entgegnete Hasard.
„Im englischen Mutterland sollen Sie wie ein Volksheld gefeiert werden.“
„Das würde ich nun nicht unbedingt behaupten“, erwiderte der Seewolf. Er dachte dabei besonders an die Versuche des sehr ehrenwerten Sir John Doughty, ihn aus dem Weg zu räumen.
„Wie dem auch sei, es scheint so einiges im Gange zu sein, das mit den jüngsten Seegefechten im Kanal zu tun hat“, meinte Bingham. „Genaue Berichte darüber haben mich leider noch nicht erreicht, aber ich sehe die spanischen Schiffe, die hier vorbeisegeln, und ich kann mir meinen Reim darauf bilden, lieber Freund.“ Er begann, sich die Hände zu reiben. „Aber nun heraus mit der Sprache, womit kann ich Ihnen beiden behilflich sein, nachdem Sie in unserem gastlichen Hafen Schutz vor dem Sturm gesucht haben?“
Hasard griff in die Innentasche seiner Jacke, zog den Kaperbrief daraus hervor und überreichte ihn dem übergewichtigen Mann, der ihm von Sekunde zu Sekunde unsympathischer wurde.
Richard Bingham nahm das Schreiben in Empfang und überflog die Zeilen mit seinem Blick. Sie lösten Hochachtung in ihm aus, er hob die Augenbrauen. Das königliche Siegel schließlich verlangte ihm seine ganze Ehrfurcht ab, er erhob sich, und es hätte nicht viel gefehlt, dann hätte er dem Seewolf gegenüber auch noch Haltung angenommen. Langsam wiederholte er einen der wichtigsten Sätze aus dem Dokument: „… und jeder englische Untertan ist gehalten, Sir Philip Hasard Killigrew und dessen Besatzung jede erdenkliche Hilfe und Unterstützung zu gewähren.“
Er sah Hasard an. „Meine Loyalität gegenüber der Krone kennt keine Grenzen, Sir. Alles, was in meinen Kräften steht, werde ich für Sie tun. Absolute Pflichttreue, das ist auch die Devise von Sir William Fitzwilliam, dem Lord Deputy von Irland, meinem höchsten Vorgesetzten, dem ich direkt verantwortlich bin. Noch einmal, meine lieben Freunde, ich heiße Sie in meiner Eigenschaft als Gouverneur von Westport herzlichst in unserer Stadt willkommen.“ Er fügte noch einige Floskeln hinzu, die seine Hilfsbereitschaft unterstreichen sollten, aber nur Jean Ribault hörte ihm lächelnd zu.
Hasard blickte