Seewölfe Paket 9. Roy Palmer
den Kolderstock drückten, der im Toben des Wetters zu brechen drohte.
Munition für die Kanonen befand sich nicht mehr an Bord, so daß sich die „Gran Grin“ bei der möglichen Konfrontation mit einem Gegner nicht auf ein Gefecht einlassen konnte.
Die Besatzung – ursprünglich mit den Seesoldaten eintausendzweihundert Mann – war auf etwa zweihundert Mann zusammengeschrumpft. Und von diesen zweihundert war der Großteil völlig unterernährt und halbverdurstet, war im Kampf verwundet worden, litt an den gefürchteten Krankheiten Skorbut, Typhus, Diarrhöe.
Der Feldscher fürchtete, daß sich auch die Cholera einschleichen würde, aber hierüber hatte er bisher nur mit Kapitän Pedro de Mendoza gesprochen, um die Verzweiflung an Bord nicht noch zu vergrößern.
Pedro de Mendoza hatte die Offiziere in seiner Kapitänskammer im Achterkastell des Schiffes versammelt, hörte sich ihren kurzen Lagebericht an und fällte dann seine Entscheidung. Er hatte keine Karten von dem Seegebiet vor der Westküste Irlands, aber er brauchte sie dazu auch nicht.
De Mendoza war ein fähiger Kapitän, vierzig Jahre alt, zäh wie Leder, tapfer und vor allem kein Leuteschinder. Reiche seemännische Erfahrung hatte er in Westindien gesammelt, mit diesem und mit anderen Schiffen, die der Neuspanien-Flotte angehört und Gold und Silber aus der Neuen Welt nach Spanien transportiert hatten.
Illusionen hatte er in einer Situation wie dieser nicht mehr. Die „Gran Grin“ war leck, und die Lecks waren mit Bordmitteln nur notdürftig abgedichtet. Die Besatzung hatte bis zum Äußersten gekämpft, aber jetzt war sie am Ende. Sie brauchte Ruhe, sie brauchte Proviant, Wasser und ärztliche Versorgung.
De Mendoza saß auf einem geschnitzten Holzgestühl hinter seinem reich verzierten Kapitänspult. Die Männer hatten ihn umringt und blickten besorgt und erwartungsvoll auf ihn hinunter. Ein Offizier fehlte bei dieser Besprechung – es war der zweite Offizier, der vor zwei Tagen seinen schweren Verletzungen erlegen war.
Einer der vielen. Sie hatten den Zweiten mit seemännischen Ehren in dem ungastlichen, mörderischen Meer bestattet, wie sie danach immer wieder Tote den Fluten hatten übergeben müssen, so viele, daß sie sie am Ende nicht mehr gezählt hatten.
In dieser Nacht hatte es Miguel, einen jungen baskischen Decksmann, getroffen, und auch jetzt, so wußte de Mendoza, hockte der Feldscher unten im Vordeck am Lager eines Todkranken, der das Morgengrauen nicht mehr erleben würde.
Der Sturm packte und schüttelte das Schiff. Die Offiziere mußten sich am Pult und an Stützbalken festklammern, um nicht umgerissen zu werden.
De Mendoza blickte seinen ersten Offizier Vega de la Torre an und sagte: „Solange der Wind noch aus Nordwest wehte, konnten wir unseren Kurs halten. Aber dem Sturm aus Südwest sind wir einfach nicht gewachsen, es ist ein Ding der Unmöglichkeit, weiter gegen ihn ankreuzen zu wollen. Daher meine Order: Wir gehen auf Kurs Nordost und laufen vor dem Sturm her. Ja, wir bewegen uns dorthin zurück, woher wir gekommen sind, aber in diesen sauren Apfel müssen wir beißen. Senores, wir versuchen, irgendwo unter einer Leeküste Schutz zu suchen.“
„Und wenn wir statt dessen auf ein Riff laufen?“ fragte de la Torre.
„Dieses Risiko gehen wir ständig ein, so oder so“, erwiderte der Kapitän. „Oder haben Sie noch einen genauen Begriff davon, in welcher Wasserregion wir uns befinden?“
„Nein, Senor Capitán.“
„Sehen Sie. Soll ich Ihre Frage noch präziser beantworten? Wenn wir auflaufen, dann ist es das Ende für uns alle. Aber das wußten Sie doch schon, oder?“
De la Torre zeigte klar und sagte: „Sie, Senor Capitán. Ich bitte um Verzeihung wegen meiner unangebrachten Bemerkung. Ich werde sofort alles Notwendige veranlassen.“
„In Ordnung“, entgegnete de Mendoza, und zum erstenmal seit langer Zeit spürte er Mutlosigkeit und Schwäche in sich aufsteigen. Wie lange konnte er auf das Durchhaltevermögen dieser Männer noch bauen? Verlangte er ihnen nicht Übermenschliches ab? War die Zeit nicht längst reif für eine Meuterei?
Es ist die Müdigkeit, die dir so etwas vorgaukelt, sagte er sich im stillen.
„Senor“, sagte de la Torre, der zur Tür gegangen war, sich jetzt aber noch einmal umwandte. „Senor, gestatten Sie mir noch ein Wort. Sie sollten sich zur Ruhe legen. Sie haben seit drei Tagen kein Auge mehr zugetan – oder seit vier Tagen?“
„Es sind mindestens vier Tage, Capitán“, sagte der Bootsmann, „Ich melde mich freiwillig zur Mittelwache mit dem Ersten, Senor.“
Plötzlich lächelte der Kapitän schwach. Am Horizont der Finsternis und Verdammnis erschien wieder ein schwacher Hoffnungsschimmer. Seine Männer – sie hielten doch noch voll zu ihm.
„Ich danke Ihnen, Senores“, erwiderte er. „Und ich glaube, ich werde Ihr Angebot annehmen. Santa Madre de Dios, vielleicht haben wir nach dieser entsetzlichen Pechsträhne ja doch endlich Glück. Vielleicht finden wir Schutz und Hilfe. Vielleicht können wir den Iren, vor deren Küsten wir uns befinden, wenigstens Trinkwasser und Nahrungsmittel abkaufen.“
„Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche“, sagte Luis de Bobadilla, der Geschwader-Zahlmeister, wie aus der Pistole geschossen. „Geld haben wir ja mehr als genug an Bord, Capitän. Falls die Bevölkerung dieser wilden Gegend uns nicht gerade freundlich gesonnen ist, wird sie doch die Augen weit aufsperren und sich vor Hilfsbereitschaft überschlagen, wenn wir ihr auch nur eine Handvoll Piaster oder Reales unter die Nase halten. Die Iren sollen bettelarme Hunde sein, habe ich gehört.“
Luis de Bobadilla, ein untersetzter Mann mit vollem Gesicht und gerötetem Teint, hielt sich mit beiden Händen am Pult seines Kapitäns fest. Zuversichtlich lächelte er de Mendoza zu.
De Mendoza begegnete seinem Blick. Dieser Zahlmeister – sah er nicht viel gesünder aus als die anderen Offiziere? War die Tatsache, daß er bisher von seinem Leibesumfang kaum etwas eingebüßt hatte, wirklich einzig und allein darauf zurückzuführen, daß er über die enormen körperlichen Reserven verfügte, mit denen er sich immer brüstete?
„Ja“, sagte de Mendoza etwas gedankenverloren. „Wir können wirklich froh sein, daß wir wenigstens die Kriegskasse des Biskaya-Geschwaders gerettet haben.“
„Die ja wohlverwahrt in deiner Kammer steht, nicht wahr, Luis?“ meinte der Bootsmann, bevor er zu de la Torre hinüberschritt und mit diesem die Kapitänskammer verließ.
„Ja“, entgegnete de Bobadilla, während sie schon durch den schwankenden Achterdecksgang nach vorn gingen. „Ja, da steht sie sicher und wohlbehütet, und jeder kann es überprüfen, wenn er will.“
Die anderen Offiziere äußerten sich nicht dazu. Keiner konnte de Bobadilla besonders leiden, aber sie hatten andererseits auch keine Lust, mit ihm über die mehr oder weniger sorgfältige Verwahrung der Kriegskasse herumzudiskutieren. Sie waren alle zum Umfallen müde.
Kapitän Pedro de Mendoza entließ die Männer, aber Luis de Bobadilla hielt er doch noch zurück.
„Auf ein Wort, Zahlmeister“, sagte er.
In diesem Augenblick erschien ein Mann der Deckswache unter dem Türpfosten der Kammer und meldete: „Senor, der Feldscher schickt mich. Der Kamerad, der im Logis im Sterben liegt, hat als letzte Bitte ausgesprochen, noch einmal mit Ihnen sprechen zu dürfen.“
De Mendoza erhob sich, gab sich einen inneren Ruck und ging, die Schiffsbewegungen durch Beinarbeit ausgleichend, zur Tür.
„Verschieben wir unser Gespräch auf später“, sagte er zu de Bobadilla. „Das kann warten.“
„Ja, Senor. Gewiß, Senor“, entgegnete der Zahlmeister. Es kam ihm wirklich gelegen, daß der Sterbende im Vorschiff gerade in diesen Minuten seine letzten Atemzüge tat.
3.
Platt vor dem Wind lief die „Gran Grin“ am frühen Morgen dieses Tages auf die Clew Bay zu, die sie