Seewölfe - Piraten der Weltmeere 421. Burt Frederick
Mister Corbett: Wir müssen den Mannschaften sagen, warum wir die Hütten bauen. Eben als Wetterschutz und letztlich aus Sicherheitsgründen. Denn wenn die Männer das Gefühl haben, wir müßten uns für einen längeren Aufenthalt auf der Insel einrichten, dann könnte das eine demoralisierende Wirkung haben. Wir müssen Ihnen immer wieder vor Augen halten, daß wir so bald wie möglich versuchen werden, eine größere Insel zu finden – wie es ironischerweise die schwarzhaarige Lady des Zweideckers empfohlen hat.“
Erneut mußte Marc Corbett im stillen zugeben, daß Tottenham auf einen Punkt hingewiesen hatte, an den er selbst noch nicht gedacht hatte. Natürlich – der Arbeitseifer der Männer würde im wesentlichen davon bestimmt werden, wie sie ihre Zukunftsaussichten einschätzten. Neben dem Arbeitseifer spielten Loyalität und Verteidigungswille eine nicht minder bedeutende Rolle.
„Danke für den Hinweis, Sir“, sagte Corbett. Er zögerte einen Augenblick. Doch dann sagte er sich, daß er mit jener Offenheit antworten konnte, wie sie Sir Edward auch ihm gegenüber an den Tag gelegt hatte. „Ich bitte Sie, Sir, alle erforderlichen Maßnahmen zu überwachen. Ich möchte nicht gern den Eindruck erwecken, daß ich eigenmächtig über Dinge entscheide, die in Ihre Zuständigkeit fallen.“
Eine Sekunde lang war das schmale Gesicht des Kapitäns wie eine Maske. Marc Corbett fürchtete fast, nun richtig ins Fettnäpfchen getreten zu sein. Doch er täuschte sich. Unvermittelt löste sich Tottenhams scheinbare Anspannung in ein Lachen auf, und er klopfte seinem Ersten Offizier sogar auf die Schulter.
„Reden Sie getrost, wie Ihnen der Schnabel gewachsen ist, Corbett. Sie erwarten von mir ein bißchen mehr als zuvor, und Sie haben recht damit. Ein Mensch sollte Kritik vertragen können. Das will ich mir hinter die Ohren schreiben.“
„So habe ich es aber nicht gemeint, Sir“, sagte Marc Corbett erschrocken. „In erster Linie wollte ich zum Ausdruck bringen, daß ich nicht gern meine Kompetenzen überschreite.“
„Ich weiß, ich weiß.“ Sir Edward klopfte ihm abermals auf die Schulter. „Lassen Sie es gut sein.“ Er stieß sich von der Mangrovenwurzel ab. „Gehen wir jetzt zu den anderen. Ich meine, wir sollten es dem Schiffszimmermann übertragen, die Beschaffung von Bauholz zu leiten. Andere Gruppen können unterdessen die Bauplätze für die einzelnen Hütten vorbereiten.“
„Ich bin sicher, wir werden schon am Abend die ersten Dächer über dem Kopf haben!“ rief der Erste begeistert. Am liebsten hätte er sich revanchiert und seinem Kapitän ebenfalls einen Hieb auf die Schulter versetzt. Aber er beherrschte sich gerade noch rechtzeitig. Bei aller guten Kumpanei wäre das denn doch ein Schritt zu weit gewesen.
Ein anderer Gedanke beschäftigte Marc Corbett, als sie den Lagerplatz der „Orion“-Crew erreichten.
„Ist Ihnen bekannt, Sir, daß sich Mister Stewart die beiden Goldkisten aus dem Besitz von Sir Henry angeeignet hat?“
Sir Edward blieb stehen und blickte den Ersten entgeistert an.
„Nein! Sind Sie sicher?“
„Völlig sicher, Sir. Mehrere Männer und auch ich selbst haben gesehen, wie Stewart nach dem Angriff des Zweideckers mit seiner unbeschädigten Jolle zur ‚Dragon‘ pullte und die beiden Kisten aus dem Achterdeck bergen ließ. Sir Henry hatte keine Chance, sich dagegen aufzulehnen.“
Tottenham konnte sich eines Lächelns, nicht erwehren. Der sehr ehrenwerte Duke of Battingham war bis zuletzt kreischend auf dem Achterdeck der „Dragon“ herumgehüpft, aber niemand hatte auch nur einen Gedanken daran verschwendet, ihn zu retten.
Einer der riesenhaften Kerle von dem fremden Zweidecker hatte den Zitternden schließlich aufgefordert, den Großmars zu räumen. Dorthin hatte sich der Hochwohlgeborene geflüchtet, nachdem die „Dragon“ auf Grund gegangen war.
Daß es unter seiner Würde wäre, sich schwimmend fortzubewegen, hatte Sir Henry immer wieder hinausposaunt. Den Denkzettel dafür hatte er erhalten, denn nun befand er sich als Gefangener an Bord des Zweideckers. Daß man sich sein Gezeter dort nicht sehr lange anhören würde, stand wohl fest.
„Wegen der Goldkisten könnten sich allerdings Komplikationen ergeben“, sagte Sir Edward düster. „Die Raffgier gewisser Personen ist nicht zu unterschätzen. Wir müssen auf jeden Fall ständig Wachen einteilen, auch während der Bauarbeiten.“
Für Marc Corbett gab es nichts mehr hinzuzufügen. Er war froh, jetzt einen Kapitän an seiner Seite zu haben, auf den er sich verlassen konnte. So wunderte es ihn auch nicht, als Tottenham kurze Zeit später mit einer der Arbeitsgruppen losmarschierte, um Bäume zu fällen. Jede Hand wurde gebraucht, und am Beispiel ihres Kapitäns orientierten sich auch Corbetts Offizierskameraden. Der alte Gemeinschaftsgeist der „Orion“-Crew war in vollem Umfang wieder erwacht.
2.
Alle drei Jollen der „Dragon“ waren hoch auf den Strand gezogen worden. Eine lag jedoch ein Stück abseits, von Palmwedeln sogar ein wenig beschattet. Die beiden Männer, die dort Wache hielten, waren froh, der sengenden Sonne nicht schutzlos ausgesetzt zu sein.
Aus dem Dickicht sahen sie unvermittelt Charles Stewart auftauchen. Irgendwo dort lungerten auch die anderen herum und pflegten ihre faule Haut. Daran, etwas Eßbares aufzutreiben, dachte keiner. Vorläufig begnügten sie sich mit Kokosnüssen.
Drüben, in einiger Entfernung, hatten die „Orion“-Leute unterdessen ein Kochfeuer angefacht – deutlich sichtbar auf dem Strand. Am liebsten wären die beiden Wachtposten hinübergelaufen und hätten um einen Schlag Suppe gebettelt. Aber sie wußten, daß sie dort gewiß nicht mit offenen Armen empfangen worden wären.
Stewart war nicht allein. An seiner Seite walzte ein Ungetüm aus dem Unterholz hervor, wie es seinesgleichen keine Crew kannte: Joe Doherty, der persönliche Profos des verblichenen Sir Andrew Clifford, Earl of Cumberland.
Dieser Doherty war ein Bulle von einem Kerl, was allein gar nicht mal so schlimm gewesen wäre. An Land hätte er in einem Zirkus auftreten können – als Kinderschreck. Denn sein Gesicht sah wahrhaftig zum Fürchten aus.
Gesicht konnte man diese wüste Landschaft von Narben und Furchen allerdings kaum noch nennen. Einige der Narben waren blutrot, andere dunkel und bläulich. Die Nase war plattgeschlagen, zu allem Überfluß fehlten diesem Monstrum auch noch ein Ohr und die Hälfte der Zähne.
Stewart war schon ein Brocken von einem Mann. Aber neben Doherty wirkte er geradezu zierlich. Zielstrebig marschierten die beiden durch die Sonnenglut am Rand des Dickichts auf die bewachte Jolle zu. Die beiden Posten ahnten, daß ihre geruhsame Zeit im Schatten abgelaufen war.
Sie täuschten sich nicht.
„Ihr könnt abhauen“, sagte Stewart barsch. „Mister Doherty übernimmt diese Aufgabe jetzt.“
Der Profos Sir Andrews stemmte die Riesenpranken in die Hüften und grinste geschmeichelt. Dabei bemerkte er einen Ausdruck des Entsetzens in den Gesichtern der beiden Kerle, die sich da von den Duchten der Jolle erhoben.
Doherty hatte eine Art dumpfes Wissen um die Wirkung seines Erscheinungsbildes. Das hatte er schon oft erlebt, infolgedessen war es nichts Ungewohntes: Sein Grinsen rief bei manchen Leuten geradezu fluchtartige Reaktionen hervor. Gelegentlich hatte er das ausgenutzt. In Hafenschänken beispielsweise, wenn es darum ging, einen guten Platz am Tresen zu ergattern.
Bedauerlicherweise pflegte in solchen Fällen zumeist auch die holde Weiblichkeit Reißaus zu nehmen. Joe Doherty hatte sich schließlich damit abgefunden, daß er stets tiefer in die Tasche greifen mußte als andere, wenn er eins von den Hafenmädchen für sich interessieren wollte. Und dann waren es meist auch nur die fetten älteren Weiber, die sich für ihn zu begeistern schienen.
Er hatte bis heute nicht begreifen können, warum die drallen und hübschen jungen Dinger immer einen großen Bogen um ihn schlugen.
Männer wie Charles Stewart brauchten indessen nur ein paar Worte mit Joe Doherty zu wechseln, um zu wissen, daß die Natur ihn unterhalb