Seewölfe - Piraten der Weltmeere 421. Burt Frederick
Joe Doherty hatte alle Eigenschaften, die ein Dienstherr vom Schlage Sir Andrews zu schätzen gewußt hatte – gewalttätig bis zur Grausamkeit, rücksichtslos, frei von menschlichen Empfinden jedweder Art und bärenstark.
Über Dohertys Körperkraft gab es die wildesten Gerüchte. Er selbst brüstete sich bisweilen mit einer Geschichte aus Falmouth in Cornwall. Dort, so behauptete er, hätte er bei einem Gauklermarkt einen ausgewachsenen Stier bei den Hörnern gepackt und auf den Rücken geworfen. Wenn Doherty so etwas erzählte, wagte niemand, ihm zu widersprechen, geschweige denn auch nur Zweifel anzumelden.
Die beiden Wachtposten wollten sich verdrücken.
„Einen Moment noch“, sagte Stewart.
Er bückte sich und überzeugte sich, daß die beiden Goldkisten mit unversehrten Schlössern unter der Achterducht standen. Dann erst scheuchte er die beiden Männer mit einer Handbewegung weg.
Von seinem Mißtrauen blieb niemand verschont, auch die nicht, die sich stets als absolut zuverlässig erwiesen hatten. In besonderem Maße galt das jetzt, da er die beiden Kisten hüten mußte wie seinen Augapfel. Nicht zuletzt deshalb hatte er Doherty mit freundlicher Aufmerksamkeit bedacht.
Das Monstrum war der geborene Befehlsempfänger. Doherty konnte nicht leben ohne jemanden, der ihm sagte, was zu tun war.
„Davon hängt meine Zukunft ab“, sagte Stewart und klatschte mit der flachen Hand auf das Kistenholz. „Also auch die Ihre, Mister Doherty. Ich denke, wir beide verstehen uns.“ Stewart kniff bei diesen Worten in kumpelhafter Vertraulichkeit das linke Auge zu.
„Aye, aye, Sir“, sagte Doherty geschmeichelt. Sir Andrew hatte ihn zwar auch ordentlich behandelt, jedenfalls so, wie er es gewohnt war. Aber der Kapitän Stewart redete ihn sogar mit „Mister Doherty“ an und war auch sonst sehr höflich zu ihm. Dies erfüllte Doherty mit besonderem Stolz, vor allem dann, wenn andere es auch mitkriegten.
Stewart richtete sich wieder auf.
„Sie sind jetzt meine Vertrauensperson, Mister Doherty“, sagte er bedeutungsvoll. „Ich weiß, daß ich mich in jeder Beziehung auf Sie verlassen kann. Was ich vorläufig noch nicht weiß, ist, wie wir von dieser lausigen Insel verschwinden werden. Aber das Gold“, er stieß mit dem Stiefelabsatz gegen die Bootsplanken, „wird uns in jedem Fall dabei helfen. Passen Sie gut auf das Gold auf, Mister Doherty. Und auch darauf, daß mir nie jemand in den Rücken fällt oder sonstwie versucht, mich zu überlisten. Bin ich raus aus dem Schlamassel, dann sind Sie es auch. Klar?“
„Aye, aye, Sir“, sagte Doherty abermals, diesmal dröhnend und voller Selbstzufriedenheit.
Die Ehre, Vertrauensperson des Kommandanten sein zu dürfen, ließ ihn noch um einiges breiter werden. Es sah aus, als sei er aufgeblasen worden. Sir Andrews Umgangston ihm gegenüber war von der Art eines Herrn zu seinem Hund gewesen. Gemessen daran fand sich Doherty nun als Vertrauensperson Kapitän Stewarts in seiner Wichtigkeit um ein Vielfaches angehoben.
Für Stewart indessen war der Kerl nichts weiter als ein nützlicher Idiot. Leichter konnte man es gar nicht haben, sich einen persönlichen Leibwächter zuzulegen. Ein paar freundliche Worte genügten, und man konnte den hirnlosen Narren mit dem kleinen Finger in jede nur beliebige Richtung bugsieren. Auf die Idee, daß er nur ausgenutzt wurde, kam Joe Doherty nie im Leben.
Und Charles Stewart hatte seinerseits nicht vor, das Monstrum bis ans Ende seiner Tage mit sich zu schleifen. Hatte man erst einmal wieder England erreicht und sich ein Leben in Wohlstand gesichert, dann würde es Mittel und Wege geben, sich des ungeschlachten Kerls zu entledigen.
Stewart wies ihn an, sich auf die Achterducht der Jolle zu setzen und niemanden an die Goldkisten heranzulassen.
„Sollte es doch einer wagen“, sagte Stewart, „dann …“ Er fuhr mit dem Zeigefinger an der Gurgel entlang.
Joe Doherty lachte glucksend, wobei sein mächtiger Oberkörper regelrecht bebte.
„So einem reiße ich den Kopf ab“, sagte er dumpf.
Stewart war überzeugt, daß Doherty das sogar wörtlich meinte. Er nickte dem Monstrum zu und stiefelte durch den weichen Sand los. Bevor er im Dickicht verschwand, sah er sich noch einmal um.
Doherty hockte auf der Achterducht wie ein Granitblock. Bei ihm war das Gold in der Tat so sicher wie in Abrahams Schoß. Er selbst würde es sich ganz gewiß nicht unter den Nagel reißen, denn er wußte ja nicht einmal, was man damit anfangen konnte.
Der Lagerplatz der „Dragon“-Crew war den Umständen entsprechend gar nicht einmal schlecht. Das mußte Stewart erneut feststellen, als er nach dem kurzen Weg über den sonnendurchglühten Strand die schattige Lichtung erreichte. Die Sonne drang nicht bis hierher vor, die Luft war beinahe als angenehm kühl zu bezeichnen, da eine sanfte Brise durch das Dickicht strich. Im Inneren der Insel mochte es undurchdringlich, stickig und feucht sein. Aber hier in Ufernähe konnten es Menschen noch aushalten.
Stewart hatte nicht vor, die Insel näher zu erkunden. Was interessierte ihn dieses dämliche Eiland! Er mußte weg von hier, und zwar so schnell wie möglich.
Die hochwohlgeborenen Gentlemen, die samt und sonders arg gerupft aussahen, hatten sich abgesondert. Wie immer zogen sie es vor, unter sich zu sein.
Sollen sie, dachte Stewart. Der einzige nach seinem Geschmack war Sir Robert Monk. Mit dem Mann konnte man etwas anfangen, das spürte Stewart instinktiv. Er hatte auch den Eindruck, daß dieser Sir Robert durchaus seiner Adels-Clique den Rücken zuwenden würde, wenn es die Lage erforderte. Aber das war im Augenblick noch Zukunftsmusik.
Die insgesamt etwa achtzig Crewmitglieder der „Dragon“ hockten in der Mitte der Lichtung. Einige von ihnen kauten mißmutig auf Stücken von Kokosnüssen herum, andere schlürften die Milch aus angebohrten Nüssen. Auf die Dauer war das natürlich keine Ernährung für ausgewachsene Männer, darüber war sich Stewart im klaren. Aber wie sollten sie etwas Besseres beschaffen? Sie besaßen ja nicht einmal Schußwaffen, um irgendwelches Viehzeug zu erlegen.
Stewart wollte sich bereits wieder auf seinen ursprünglichen Platz niederlassen, als er eine Gestalt sah, die ihm vom jenseitigen Rand der Lichtung aus zuwinkte. Dort gab es eine Schneise und daran angrenzend eine Nebenlichtung – Zufluchtsort der Burschen von der „Lady Anne“. Verständlich, daß sie sich nicht in die Nähe von Corbett und Tottenham trauten, wobei man den letzteren nach Stewarts Meinung besser auf „Trottelham“ umtaufte.
Die winkende Gestalt war niemand anders als O’Leary, der Bootsmann mit der Holzhackervisage. Unter dem Kommando des alten Killigrew mußte er eine große Nummer gewesen sein. Stewart hatte das daraus gefolgert, daß O’Leary sogar das Recht hatte, die beiden ferkelgesichtigen Söhne des Alten herumzukommandieren. Geblieben war dem vierschrötigen Bootsmann immerhin ein uneingeschränkter Respekt der Crewmitglieder von der „Lady Anne“.
Stewart ging auf ihn zu und ließ sich von ihm beiseite nehmen.
„Die Jungs haben gesagt, ich sollte mal mit Ihnen reden, Sir“, sagte O’Leary und setzte dabei ein vertrauliches Grinsen auf.
„Da haben die Jungs dir einen guten Rat gegeben“, entgegnete Stewart und grinste zurück.
Bei jenen Zukunftsplänen, die ihm allerdings noch nicht genau umrissen vorschwebten, paßten die Killigrew-Leute unter O’Leary besser zu ihm als die Crew der „Dragon“. Diesen Burschen, die für den alten Halunken aus Cornwall durch dick und dünn gegangen waren, brauchte man nicht lange zu erklären, warum man sich beispielsweise zwei Goldkisten unter den Nagel riß. Denen brauchte man auch nicht zu verklaren, warum man sich für die legendäre Schatzbeute des Seewolfs mehr interessierte als dafür, den Mann in England vor Gericht zu stellen.
O’Leary rannte bei Stewart gewissermaßen ein offenes Schott ein.
„Ja, das ist so“, sagte der Bootsmann gedehnt, „wir wissen irgendwie nicht richtig, wo wir hingehören. Dieser Corbett hat uns zwar aus der Vorpiek rausgelassen. Aber wenn wir freiwillig hingehen, läßt das Schwein uns bestimmt in Ketten legen.“
„Damit