Seewölfe Paket 10. Roy Palmer
Hasard schob sich mit größter Vorsicht voran und bog die Zweige so zur Seite, daß sie kaum raschelten. Auch von seinen Männern vermochte er jetzt nichts mehr zu hören. Stille hatte sich über das Dickicht gesenkt. Sie wurde nur durch das Rauschen der Brandung und das Kreischen einiger Seevögel gestört.
Ben Brighton und die anderen an Bord der „Isabella“ verhielten sich abwartend. Ben hätte ohnehin nur auf einen Befehl seines Kapitäns hin etwas unternommen. Außerdem hatte der Seewolf dem Gambia-Mann die Order gegeben, zum Schiff hinüberzusignalisieren und Siri-Tong und den Männern bekanntzugeben, daß das Landunternehmen bislang ohne Verluste abgelaufen sei und der kleine Trupp jetzt weiter nach dem Mädchen forsche. Die wichtigste Phase des Kampfes am Strand hatten die auf der „Isabella“ Zurückgebliebenen ja sowieso durch ihre Kieker verfolgen können. Für den Rest würde Batuti sich einiger gut verständlicher Zeichen bedienen, die sie alle kannten.
Hasard verharrte.
Schräg rechts vor sich hatte er ein feines Geräusch gehört. Eine Art Knacken war es gewesen – oder ein Knistern? Egal, dachte er. Behutsam glitt er weiter, Zoll um Zoll, Fuß um Fuß, und glaubte jetzt jemanden atmen zu hören. Er war sicher, auf dem richtigen Pfad zu dem Polynesiermädchen zu sein und nicht etwa ein Tier des Dschungels vor sich zu haben. Unbeirrt pirschte er weiter vor.
Das Anschleichen konnte auch ein Seemann, ein Korsar Ihrer Majestät, Elizabeth I. von England, durchaus fachgerecht lernen. Waren sie, die Seewölfe, nicht lange genug in der Neuen Welt und im Fernen Osten gewesen, hatten sie nicht engen Kontakt mit der Urbevölkerung gehabt? Vieles hatten sie von diesen Menschen abgeschaut, viele Fertigkeiten und Techniken, die in der Alten Welt bei weitem nicht so entwickelt waren. Gerade die Urwaldstämme – und das traf für alle Kontinente zu – waren Meister im lautlosen Anpirschen.
Hasard bewegte sich jetzt so geschickt durch das Dickicht, daß er weder einen Laut verursachte noch die Blätter und Zweige der Sträucher mehr als eben nötig berührte. Er hatte sich auf alle viere niedergelassen, hielt den Cutlass in der Rechten, achtete aber darauf, daß er mit der Klinge nirgends anstieß.
Dann vernahm er wieder einen Atemzug, dicht vor sich.
Kurz darauf flüsterte jemand etwas auf französisch.
Hasard fühlte seine innere Anspannung bis ins Unerträgliche wachsen. Sollte er jetzt aufspringen und sich auf die Kerle stürzen? Nein, das konnte nie und nimmer die richtige Taktik sein, denn wenn sich das Mädchen schon in ihrer Gewalt befand, gefährdete er es nur durch sein unüberlegtes Handeln.
Sie können dich nicht bemerkt haben, dachte er, nutzte das aus.
Immer langsamer arbeitete er sich voran. Er verengte die Augen zu Schlitzen, spähte zwischen den Feuchtigkeit ausdampfenden Blättern voraus, um möglicherweise etwas von dem oder den Feinden zu entdecken – und dann, ganz plötzlich, sah er sie wirklich.
Fast zum Greifen nah kauerten sie im Gebüsch. Zwei Männer – und das Mädchen. Hasard schob sich so behutsam, als könne er etwas zerbrechen, noch um einige Zoll weiter vor und konnte nun ihr Gesicht, ihre angstgeweiteten Augen erkennen.
Alewa, dachte er bestürzt.
Ja, jetzt hatte sich auch diese Ahnung bewahrheitet. Er kannte sie. In den sechs Jahren, die inzwischen vergangen waren, war sie reifer und fraulicher geworden, aber er wußte auf Anhieb, daß sie das eine Mädchen aus dem Quartett von damals war, das de Galantes an Bord des schwarzen Seglers entführt hatte. Gerade die Mädchen hatten dann dazu beigetragen, daß de Galantes doch gescheitert war, denn sie hatten ihm ein Pülverchen verabreicht, das ihn eingeschläfert hatte. Damit hatte das Verhängnis für ihn erst richtig begonnen. Dann hatten auch noch seine Männer gemeutert, und es war ausgewesen. Hasard und Siri-Tong, der Wikinger und alle anderen hatten das schwarze Schiff zurückerobern können.
Wie konnte man jemals die Ereignisse von damals vergessen? Sie waren für immer in Hasards Geist verhaftet, und er vergaß auch nicht die Tapferkeit, mit der die Mädchen seinerzeit vorgegangen waren.
Alewa hatte einen Knebel im Mund stecken, und der eine Kerl, ein untersetzter Mann mit breitem, derbem Gesicht und einer speckigen Mütze auf dem Kopf, hielt sie fest, während der andere immer wieder nach allen Seiten Ausschau hielt.
Dieser zweite Pirat war groß und ausgesprochen kräftig gebaut. Er hatte sich ein buntes Tuch um den Kopf geschlungen. Von seinem linken Ohrläppchen baumelte ein Ring herab, der zweifellos aus Gold war. Sein Hemd hatte er über dem Bauchnabel zusammengeknotet. Seine Hosen reichten ihm nur bis zu den Waden, Schuhe schien er nicht zu besitzen. In seinem scharfgeschnittenen Gesicht fielen die klaren blauen Augen auf, die so kalt wie Eis zu sein schienen.
Hasard überlegte noch, ob er lieber seine Kameraden holen solle, statt allein zu handeln, da wurde ihm die Entscheidung durch die Entwicklung der Dinge abgenommen. Der Blauäugige wandte sich seinem Kumpan zu und raunte ihm etwas ins Ohr, was der Seewolf nicht verstehen konnte. Der andere Pirat nickte. Der Blauäugige erhob sich vorsichtig, schlich gebückt voran und gab somit die Richtung an. Der untersetzte Mann zerrte Alewa mit sich hoch, stieß sie voran und folgte dem anderen, der der Wortführer in dem Duo zu sein schien.
Zweifellos fühlten sie sich an diesem Platz nicht mehr sicher. Sie zogen sich lieber tiefer ins Dickicht zurück. Hasard mußte zugeben, daß der Blauäugige sich damit völlig richtig verhielt – von seiner Warte aus gesehen natürlich. Er schien scharf ausgeprägte Instinkte zu haben, ein Gespür für aufziehende Gefahren. Hasard saß den beiden Kerlen ja nun wirklich dicht auf dem Leib.
Als der Untersetzte Alewa vor sich her trieb und Hasard damit den Rükken zuwandte, zögerte Hasard nicht mehr. Er stand auf, schlich den Piraten nach, nahm den Cutlass in die linke Hand und hob die rechte, um einen brettharten Jagdhieb auf den Nacken des Piraten niedersausen zu lassen.
Er schlug mit voller Wucht zu, aber im selben Augenblick fuhr der Franzose zu ihm herum.
Damit brachte der Pirat sich in eine andere Position. Der Hieb, der ihn eigentlich hätte fällen müssen, traf seinen Rücken, nicht seine Nackenpartie. Hasard konnte den Schlag nicht mehr abstoppen. Jede Reaktion erfolgte zu spät.
Der Pirat stöhnte zwar auf, sackte in die Knie und ließ dabei Alewa los, aber er wurde nicht besinnungslos. Während sein vorn pirschender Kumpan herumwirbelte, griff er nach dem Entermesser in seinem Gurt, riß es heraus und stöhnte dabei: „Louis – Louis, Achtung!“
Hasard bediente sich wieder seines Beines, um den Widersacher kampfunfähig zu machen. Er trat ihm das Entermesser aus der Hand, bückte sich und schlug noch einmal mit der rechten Faust zu. Diesmal traf er besser als vorher. Der Untersetzte brach mit einem erstickten, keuchenden Laut zusammen.
Alewa hatte sich ebenfalls umgedreht und blickte aus ungläubig geweiteten Augen auf den Seewolf. In diesem Moment dachte sie wieder an Pele, die Göttin der Vulkane, und dankte ihr für die Gnade und die Hilfe, die sie ihr zuteil werden ließ – Pele hatte El Lobo del Mar, den Seewolf, direkt zu ihr geschickt.
Hasard wandte sich Louis zu.
Louis hatte sofort erkannt, von welchem Format der Kämpfer war, der da so blitzschnell über sie hergefallen war. Auf einen Zweikampf wollte er sich nicht unbedingt einlassen. Deshalb packte er Alewa, ehe diese zu dem Retter eilen konnte. Er riß sie zu sich heran, preßte sie an seinen Körper und hielt sie als lebenden Schutzschild vor sich fest. Die Schnapphahnschloß-Pistole mit den Perlmuttverzierungen drückte er ihr in die Seite.
„Zurück“, sagte er zu dem Angreifer. „Zurück, oder sie stirbt!“
Hasard kannte sich in der französischen Sprache gut genug aus, um die Worte zu verstehen. Selbst wenn er nicht begriffen hätte, was Louis sagte – die Lage sprach für sich.
Plötzlich stand er wie vom Donner gerührt da.
Er verfluchte sich selbst, weil er nicht doch wenigstens einen seiner Männer zu Hilfe geholt hatte.
„Gut“, zischte Louis. „Und jetzt weg mit der Waffe. Wird’s bald? Englischer Bastard, verstehst du mich nicht?“ In gebrochenem Englisch wiederholte er: „Wirf