Operation Terra 2.0. Andrea Ross
sich unordentlich Bücher, Skripten, Rollen und Stapel mit Blättern, die zum Teil auch überall auf dem Fußboden verteilt waren. ›Das gemütliches Refugium eines Individualisten‹, dachte Solaras.
»Zum Ärger meiner Frau verbringe ich die Freizeit meistens hier oben. Das ist mein Allerheiligstes«, enthüllte Rainald augenzwinkernd.
Kalmes studierte aufmerksam die Buchrücken, während ihr Gefährte sich mit dem ambitionierten Sterngucker unterhielt. Die Titel gaben durchaus Anlass zur Hoffnung. Asteroids, Erde in Gefahr, Die Bedrohung aus den Tiefen des Alls, stand da unter anderem zu lesen. Der Hobbyastronom hatte sich also zumindest bereits mit dem einschlägigen Thema befasst; anscheinend sogar ausgiebig, die Bücher wirkten abgegriffen. Man konnte sich mühelos vorstellen, wie Rainald hier oben stundenlang in den klaren Himmel blickte, Sternkarten studierte oder gemütlich in den dicken Bänden schmökerte. Vermutlich bekam ihn seine Frau nicht allzu oft zu Gesicht.
»Dieser Kuppelraum, der mein Teleskop beherbergt, ist letztes Jahr als erster fertig geworden. Das restliche Haus haben wir quasi drum herum gebaut. Damit habe ich mir einen jahrzehntelangen Traum erfüllt«, strahlte er mit blitzenden Augen.
»Und was für ein Gerät tragen Sie da so behutsam unter dem Arm? Hat das mit der Sensation zu tun, die Sie mir versprochen hatten?«
»Und ob! Sollen wir gleich loslegen?«
»Später. Meine Frau hat ein bescheidenes Abendessen vorbereitet. Es kommt schließlich nicht alle Tage vor, dass sich ein fachkundiger Kollege in diese abgelegene Gegend verirrt. Wir verfügen über ein Gästezimmer. Sie können gerne darin übernachten, falls es heute spät werden sollte«, sagte der Bärtige mit einem gewinnenden Lächeln und geleitete seine Besucher höflich zur Wendeltreppe.
»Das wird nicht gehen. Wir müssen beide morgen Nachmittag in Köln wieder arbeiten und somit noch in der Nacht zurückfahren. Aber danke für Ihr nettes Angebot. Nach den bitteren Erfahrungen mit anderen Sternwarten sind wir schon froh, wenn uns überhaupt jemand zuhören möchte.«
»Ja ja, der berüchtigte Standesdünkel der hochdotierten Wissenschaftler. Den kenne ich nur zu gut«, grinste Hemmauer, verdrehte die Augen und lotste die Tiberianer ins Esszimmer.
»Rainald, nervst du die bedauerlichen Leute etwa schon wieder mit den wilden Geschichten über deine Entdeckung des winzigen Lichtpünktchens?« Eine korpulente Frau mit rotem schulterlangem Lockenhaar und Sommersprossen im Gesicht kam grinsend aus der Küche, wischte sich die Hände an der Schürze ab.
»Mensch, Marit – du sollst das doch nicht immer ins Lächerliche ziehen. Das ist höchstwahrscheinlich ein noch nicht katalogisierter Planet und kein ›Lichtpünktchen‹!« Rainald knuffte seine Frau zärtlich in den Oberarm. Die zuckte mit den Schultern und verschwand in der Küche, um kurz darauf mit einem dampfenden Topf wieder aufzutauchen. Auf den Unterarmen balancierte sie noch zusätzlich ein geflochtenes Körbchen mit geschnittenem Weißbrot.
»Nehmen Sie bitte schon mal Platz. Ich hoffe, Sie mögen Chili. Ich habe das Gericht nicht zu scharf gewürzt, da ich Sie und Ihre Vorlieben ja nicht kenne. Was darf ich Ihnen zum Trinken anbieten?«
Nach dem Essen und jeder Menge Smalltalk kam Solaras ohne weitere Umschweife zum Wesentlichen. Allerdings erst, nachdem Marit Hemmauer gegangen war und wieder geschäftig in der Küche werkelte. Er erzählte Rainald dieselbe Geschichte, die er schon in Potsdam zum Besten gegeben hatte; allerdings trugen er und Kalmes nun normale terrestrische Kleidung.
Rainald stand der Mund offen.
»Äh … ich hatte ja einiges erwartet, doch das …!«
»Nur zu, zweifeln Sie ruhig. Das ist verständlich. Aber würden Sie mir den Gefallen tun, sich zunächst die Aufzeichnung auf meinem Holographen anzusehen? Sie spricht für sich.«
»Ihrem was?«
»Meinem Holographen. Ich würde Sie bitten, dafür mit uns nach oben zu gehen. Ihre Frau … nun, sagen wir, sie könnte sonst hinterher ein bisschen verstört sein.«
Die Wangen des Hobbyastronoms röteten sich. »Jetzt haben Sie mich neugierig gemacht. Na klar, gehen wir also ins Observatorium. Marit taucht dort so gut wie niemals auf. Sie toleriert mein Hobby zwar halbwegs, aber teilen oder gar verstehen kann sie es offenbar zeitlebens nicht. Wir haben mit den Jahren eine Art Waffenstillstand erreicht. Ich darf nach Herzenslust HansguckindieLuft spielen, sie dafür zweimal pro Woche in ihren sauteuren Yogakurs gehen.«
Solaras stellte das Gerät mitten in Rainalds Hobbyraum, aktivierte es. Schon als sich die samtene Schwärze überall ausbreitete, musste der Gastgeber sich mit weit aufgerissenen Augen hinsetzen. Sein Gesicht sah aus, als würde er jeden Augenblick einen Schlaganfall erleiden.
Der Asteroid rauschte an ihm vorbei. »Das ist … das ist … «, stammelte er. Mehr brachte er nicht heraus. Nach dem dumpfen Einschlag hob er unwillkürlich die Füße von der brennenden Erdoberfläche, stellte sie auf die Vorderkante des Sessels und umschlang die Knie mit den Armen.
Die Vorstellung war vorüber. Rainalds Hände zitterten, doch die Augen strahlten. »Und das blüht der Erde tatsächlich? Du meine Güte … ich habe erkannt, woher der Asteroid geflogen kam. Die Sonne muss ihn wohl lange vor irdischen Blicken verborgen haben, er war wie ein Geisterfahrer unterwegs. Das für die Asteroidensuche eigens letztes Jahr reaktivierte Infrarotteleskop Wise würde ihn viel zu spät entdecken. Kann man die Datenfolgen auch ohne die restliche Aufzeichnung abspielen?«, japste Hemmauer ergriffen.
Solaras zog ein paar Blatt Papier aus seiner Tasche. »Natürlich. Ich habe sie in ausgedruckter Form mitgebracht. Sie sind übrigens der Erste, der sich mit der Möglichkeit befassen will, dass wir die Wahrheit sagen. Mithilfe der Berechnungen können Sie die Flugbahn anhand Ihrer Himmelskarte nachvollziehen. Vielleicht verstehen Sie jetzt, weshalb wir die Terraner … also, die Erdbevölkerung, warnen wollen. Die berechtigte Frage ist nur: Wie sollen wir das bewerkstelligen? Und werden Sie uns dabei helfen?«
Hemmauer antwortete spontan. »Selbstverständlich, unbedingt! Leute … entweder seid ihr und dieser Asteroid die Entdeckung des Jahrhunderts, oder ich bin soeben auf den besten Schwindel ever hereingefallen. Wann soll das Ding auf der Erde einschlagen?«
»Nicht zu unseren Lebzeiten, es dauert noch ein paar Generationen. Berechnet ist der 5. April 2272 hiesiger Zeitrechnung. Aber wirksame Vorkehrungen zur Abwehr dieses Planetenkillers kann man ja kaum von heute auf morgen treffen, da sind hundert Jahre schneller vorbei als man denkt.«
»Stimmt! Es müssen erst neue Technologien entwickelt oder Evakuierungsmöglichkeiten für die Menschen geschaffen werden. Man muss so früh wie möglich damit anfangen, Möglichkeiten auszuloten.
Klar … ich helfe euch, die Gefahr publik zu machen. In der offiziellen Fachwelt werden wir allerdings nicht weit kommen. Mein Ruf dort ist … hm … nicht der beste. Dieses Schicksal teilen die meisten Amateurastronomen, sie werden eher belächelt als dass man sie ernst nehmen würde. Wir sollten uns besser der sozialen Netzwerke sowie You Tube bedienen, um die Sache innerhalb kürzester Zeit auf breiter Front in die Öffentlichkeit zu tragen.
Irgendwann müssen sich dann auch die renommierten Wissenschaftler damit befassen, schon weil sie äußerst interessiert daran sein werden, die vermeintlich getürkte Aufzeichnung zu widerlegen – was ihnen gleichwohl kaum gelingen dürfte. Ich überlege mir was! Bierchen gefällig?«
Halbwegs zufrieden, aber total erschöpft, fuhren Kalmes und Solaras nach ausgiebigem Brainstorming und zwei Bieren in den frühen Morgenstunden nach Hause. Es ging auf der reifglatten Straße nur langsam voran. Die Fahrt und der nachfolgende Arbeitstag versprachen hart zu werden.
Terra, 19. Juli 2028 nach Christus, Mittwoch
Zum dritten Mal an diesem Tag bebte die Erde am Golf von Neapel. Um 11:28 Uhr Ortszeit begann der Boden zu zittern, im Hafenbecken kräuselten sich die Wellen im Rhythmus der Erschütterungen.