Die kälteste Stunde. Dirk Rühmann
Kapitel 46
Kapitel 1
Ein gellender Schrei durchschnitt die Abendruhe und schreckte zwei ältere Eheleute auf, die sich auf dem Nachhauseweg befanden. Die Herrschaften blieben stehen und sahen angsterfüllt in alle Himmelsrichtungen. Sie hielten inne und warteten kurz. Dann trieb sie die eisige Kälte weiter vorwärts.
Da sie nichts vernahmen, maßen sie der Angelegenheit keine besondere Bedeutung bei. Die Straßenlaternen, eher Funzeln, wiesen ihnen den Weg bis zur Hauptstraße. Als sie sie erreicht hatten und überqueren wollten, hörten die beiden das Aufheulen eines Motors und quietschende Reifen.
Das Ehepaar blieb vorsichtshalber auf dem Fußweg stehen. Nur einen Moment später raste ein Wagen mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit an den beiden vorbei. Sie meinten, am Kennzeichen des Fahrzeugs ein M für München erkannt zu haben, konnten sich aber ebenso gut in der Dunkelheit auch geirrt haben. Außerdem waren nur Bruchteile von Sekunden vergangen, in denen sie fast nichts hatten erkennen können. Schnell entschwand das Fahrzeug über die Hauptstraße hinter der lang gezogenen Kurve ihren Blicken. Sie schimpften wie die Rohrspatzen, setzten dann aber ihren Nachhauseweg unvermindert fort.
Unterwegs stellten die Eheleute Vermutungen über das Erlebte an. Den Autofahrer hielten sie für betrunken und der seltsame Schrei mochte gleichsam von einem Betrunkenen ausgestoßen worden sein. Dass beides möglicherweise unmittelbar miteinander zusammenhängen und dass sie vielleicht Zeugen eines abscheulichen Verbrechens geworden sein könnten, daran verschwendeten sie keinen einzigen Gedanken. Warum auch?
Nachdem sie die Haustür hinter sich verschlossen hatten, war für sie der Frieden des Harzdörfchens Leuterspring wieder hergestellt. Es ereignete sich nichts weiter in dieser Nacht, sodass die Eheleute schnell in den Schlaf fanden und die Ereignisse des Abends einfach wieder vergaßen.
Kapitel 2
Der Kirchturm warf seinen langen Schatten auf die mit einer hauchdünnen Schneedecke überzogene Rasenfläche, die das aus dem Mittelalter stammende Sandsteingebäude umrundete. Das vor den Toren des Harzdorfes Leuterspring auf einem Hügel stehende Gotteshaus, das mit seinen klassischen Rundbögen prägend für den romanischen Baustil jener vergangenen Tage war, galt seit ewigen Zeiten als das unverwechselbare Wahrzeichen des in der Talsohle gelegenen Dorfes. Zerstörten Feuersbrünste, Kriege und Seuchen den Ort gleich mehrfach in seiner fast tausendjährigen Geschichte, so überlebte die kleine Kathedrale mit ihrem winzigen Kirchenschiff die grausigen Verwüstungen aus verschiedenen Epochen, als habe sie das alles nie etwas angegangen. Doch der Zahn der Zeit machte nicht ewig Halt vor Zerstörungen, und so nagten die modernen Umwelteinflüsse an dem scheinbar für die Ewigkeit geschaffenen kunstvollen Bau aus der fernen Vergangenheit. Steine wurden locker und brachen einfach aus dem Gotteshaus heraus.
Der Klingelbeutel konnte gar nicht groß genug sein, um das nötige Geld für die Reparaturen aufzubringen. Außerdem wurde der Kreis der freiwilligen Spender ohnehin von Jahr zu Jahr kleiner. Wenn es eine Rettung aus öffentlicher Hand für das mittelalterliche Gotteshaus geben sollte, so hieß sie Denkmalschutz. Schützen war das eine, bezahlen das andere. Von selbst floss kein Geld für die dringend notwendige Instandhaltung. Deshalb war die Kirchengemeinde immer mehr auf ehrenamtliche Helfer und Spendengelder angewiesen.
Ähnlich verhielt es sich mit dem Personal. Die Stelle des Pfarrers selbst war bislang noch nicht gestrichen worden, wurde jedoch in den Haushaltsunterlagen des zuständigen Kirchenamtes als kw geführt, was ausgeschrieben künftig wegfallend bedeutet. Im Klartext hieß das, wenn Jörg Ebeling in einigen Jahren in seinen wohlverdienten Ruhestand verabschiedet werden würde, bliebe die Stelle unbesetzt und die übrig gebliebenen Schäfchen der Gemeinde bekämen keinen neuen Hirten mehr, der mit ihnen in einem Dorf leben könnte.
Bislang hatte sich die Kirchengemeinde immer irgendwie helfen können. Für eine Pfarrsekretärin war noch ein wenig Geld vorhanden. Die Stelle war jedoch auf ein Minimum von drei Stunden pro Woche zusammengestrichen worden.
Dann gab es da Hans-Werner Vahldieck, der vor zwei Jahren in Rente gegangen war. Ein Leben lang hatte er sich als Schlosser seine Brötchen verdient. Doch es kribbelte dem hageren Mann in den Händen und er hatte sich gelangweilt, da ein Tag für ihn wie der andere gewesen war. So hatte er sich der Kirchengemeinde angedient. Jetzt im zunehmenden Alter suchte er die Nähe Gottes und glaubte, sie bei der täglichen Arbeit hier zu finden. Es gab nichts, was der alte Mann nicht konnte. Er sah ständig im Gotteshaus und drum herum nach dem Rechten. Irgendetwas gab es dort immer instandzusetzen. Für die kleinen Reparaturarbeiten fühlte er sich zuständig. Die bröckelnde Bausubstanz allerdings konnte der in die Jahre gekommene Mann auch nicht retten. Im Sommer hatte er freilich mehr zu tun. Der große Kirchgarten wollte gepflegt und der Rasen regelmäßig gemäht werden. In der kalten Jahreszeit musste Vahldieck sich manchmal Aufgaben suchen. Doch schien das offenbar kein Problem für den älteren Herrn darzustellen. Er fand immer was zum Pruckeln.
Die Kirche wurde im Winter nur noch beheizt, wenn besondere Veranstaltungen auf dem Programm standen. Ein junges Pärchen wollte sich an diesem Tag das Jawort geben. Da eine grimmige Kälte herrschte und sich die Temperaturen nach der vergangenen wolkenlosen Nacht im zweistelligen Minusbereich befanden, hatte sich Vahldieck schon früh am Morgen auf den Weg gemacht, um das Kirchenschiff einigermaßen warm zu bekommen. In einen dicken Wintermantel gehüllt ging er mit hochgestelltem Kragen, einem kunstvoll um den Hals geschwungenen Wollschal und einer blauen Pudelmütze auf dem Kopf den sich schlängelnden Weg zur Kirchentür hinauf. Seine in Lederstiefel verstauten Füße trotteten gemächlich vor sich hin, während der Atem tief und schwer unter seiner Brust brandete. Vor seinem Mund kräuselte er sich zu einer Rauchwolke. Der Mann schaute nach unten, nicht nach vorn, da ihm die Einöde sehr vertraut war, durch die er hier seit rund zwei Jahren fast täglich hindurchstapfte. Niemand begegnete ihm zu dieser verhältnismäßig frühen Stunde auf dem Gottesacker vor dem Kirchturm.
Von dem Hügel, auf dem die Kirche stand, ließ sich die Quelle des Flüsschens Leuter gut erkennen, die unweit vom Dorf entfernt lag und selbst bei diesen arktischen Temperaturen niemals zufror.
Die tief stehende Sonne leuchtete in einige wenige Straßen, ohne ihnen jedoch auch nur ein Fünkchen Wärme zu spenden. Dafür stieg der Rauch senkrecht aus den Schornsteinen der Häuser von Leuterspring und erhob sich in zumeist weißen, qualmenden Säulen ganz gemächlich gen Himmel.
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