Die kälteste Stunde. Dirk Rühmann

Die kälteste Stunde - Dirk Rühmann


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alt. Das bedeutete, dass sie noch über zwanzig Jahre bis zu ihrer Pensionierung vor sich hatte. Ihr neuer Chef war 43. Wenn er nicht eines schönen Tages Justizminister werden sollte, würde sie ihre Pensionierung unter diesen Arbeitsbedingungen nicht erleben. Sie grübelte über die Möglichkeit einer Versetzung nach.

      Jörg Ebeling dachte an seine Pensionierung, deren Schwelle er in drei bis fünf Jahren erreichen würde. Als das junge Brautpaar vor ihm am Altar des Herrn stand und sich das Jawort gab, überlegte er für einen Augenblick, wie vielen Pärchen er das ewige Treueversprechen in all den Dienstjahrzehnten schon abgenommen hatte und wie viele es später vermutlich gebrochen hatten.

      Eigentlich empfand er es als romantisch, dass trotz der immer stärker um sich greifenden Nüchternheit Menschen den Weg in die Kirche beschritten, um vor Gott zu bezeugen, dass sie sich füreinander geschaffen glaubten. Meistens verlief das Leben anders, als junge Menschen es sich vorstellten. So kreisten die Gedanken des Pfarrers um seine eigene Ehe, die am Boden lag. Und er dachte an Cora. Er fühlte eine Sehnsucht, als er das Lachen der jungen Menschen sah, die vor ihm standen und die Ringe tauschten. Es war dieses eindeutige, uneingeschränkte Lachen, das Ja zum Leben und vor allem zur Liebe sagte.

      Nachdem er den Segen gesprochen und die frisch Vermählten in die eisige Kälte entlassen hatte, schweifte sein Blick über den verschneiten Garten, auf dem am frühen Morgen der Tote gefunden worden war. Keine einzige Spur von dem erfrorenen Obdachlosen war mehr zu entdecken. Nur Ebeling und sein Kirchenvogt Vahldieck dachten für einen Moment an die gespenstische Szene im winterlichen Morgengrauen.

      Dann drehte Vahldieck die Heizung wieder ab. Bis zum folgenden Sonntag würde die Kirche unbenutzt bleiben und deshalb auch wieder verschlossen, was Pfarrer Ebeling missfiel.

      Er ging zu seinem Haus hinunter und überlegte, ob er Cora anrufen sollte. Aus irgendeinem, ihm nicht ersichtlichen Grunde verwarf er den Gedanken jedoch schnell wieder.

      Ebeling traute sich gar nicht mehr, in den Spiegel zu schauen. Wenn er die wenigen grauen Haare auf seinem Kopf betrachtete und die ziemlich rundliche Figur darunter, befielen ihn stets Zweifel, was die hübsche Staatsanwältin so attraktiv an ihm fand. Vielleicht rief er deshalb nicht bei ihr an, weil ihn die Angst plagte, dass sie ihn eines Tages mit offenen Augen betrachtete und ohne den Mantel der Verliebtheit ihren Gefallen an seinem welken Gesicht verlöre.

      Am nächsten Tag flatterte der Staatsanwältin der Obduktionsbericht auf den Tisch. Der vermutlich obdachlose Mann, der vor der Tür der Kirche ihres Freundes den Tod gefunden hatte, starb ohne Fremdeinwirkung. Er war erfroren. Es gab auch keine Hinweise darauf, dass ihn jemand tot vor die Kirche gezerrt und da abgelegt hatte. Den Weg dorthin musste der volltrunkene Mann in der Hoffnung, im Kirchengebäude Unterschlupf und Schutz vor der Kälte zu finden, allein zurückgelegt haben. Sein Alkoholgehalt im Blut belief sich auf 3,4 Promille. Cora Dennigsen gab nun ein Polizeifoto, das den Toten zeigte, an Fernsehen, Presse und soziale Medien mit der Frage weiter, ob jemand den Mann kenne. Seine Akte konnte sie definitiv schließen. Falls die Staatsanwältin Glück haben und sich jemand auf ihre Anfrage mit einem Hinweis melden sollte, könnte sie nachträglich seinen Namen den Akten hinzufügen. Ansonsten bliebe er einer von den namenlosen Toten dieser Welt.

      Cora Dennigsen zog das Foto, das der Verstorbene bei sich gehabt hatte, aus der Akte heraus und hielt es in den Händen. Es wunderte sie, dass er es so sorgfältig in seinen Lumpen verstaut hatte. Doch wie versprochen legte sie es nicht wieder in die Akte, sondern würde es Jörg zu ihrem nächsten Treffen mitbringen. Im Augenblick wusste sie jedoch nicht, wann eine neuerliche Begegnung mit dem Pfarrer stattfinden würde und ob sie es überhaupt wollte. Cora war wieder gespalten in ihren Gefühlen diesem Mann gegenüber. Sie besah sich das Foto, noch einmal, bevor sie es in ihrer Handtasche verstaute. Dann beschäftigte sie kurz die Frage, was der so stark alkoholisierte Erfrorene mit diesem bildhübschen Mädchen zu tun hatte. Doch schließlich rief die Arbeit. Berge von Akten wollten beackert werden. Cora machte sich daran und schnell geriet das Mädchen mit den Klapperlatschen wieder in Vergessenheit.

      Zwei Tage waren vergangen, ohne dass Cora und Jörg etwas voneinander gehört hatten. Es missfiel der Staatsanwältin, dass der Pfarrer sich nicht bei ihr meldete, obwohl ihr nicht klar war, ob sie das überhaupt wollte. Hätte es keinen Grund für sie gegeben, ihn anzurufen, wäre vielleicht noch viel Zeit verstrichen, bis er den Kontakt zu ihr gesucht und aufgenommen hätte.

      Für Cora stand fest, dass sein offensichtliches Interesse an ihr verblasst sein musste, wenn er sich nicht meldete. Vielleicht gab es aber auch wieder Stress mit seiner Frau. So gab sie sich schließlich einen Ruck und rief ihn an. Nach mehrmaligem Klingeln ging er an sein Handy. Für Cora nicht spürbar wurde Jörg ganz warm ums Herz, als er ihre leicht angeraute Stimme vernahm. Dieses Mal sprach sie über den Toten vor der Kirche, während er sie mit Komplimenten überzog und sich froh darüber zeigte, ihre Stimme zu hören. Auf die Frage, warum er sich nicht bei ihr gemeldet hatte, gab Ebeling zur Antwort, aus Ärger mit seiner Frau keine Muße dazu gefunden zu haben.

      Nach wenigen Minuten befanden sich beide wieder auf einer Wellenlänge und verabredeten sich zum gemeinsamen Abendessen in einem Restaurant in Goslar. Cora wollte dem Pfarrer das fragliche Foto mitbringen.

      Wann immer es Jörg aus unterschiedlichen Gründen in dieses Städtchen zog, bewunderte er Goslar mit seiner historischen Altstadt, der Kaiserpfalz und den schmalen kopfsteingepflasterten Straßen.

      Die beiden trafen sich in einem der Restaurants am Marktplatz, wo sie sich zur Begrüßung einen flüchtigen Kuss gaben. Die Angst schwang mit, von irgendjemandem aus Leuterspring, der auch hier verweilte, beobachtet zu werden.

      Nachdem sie an dem einzigen noch freien Tisch Platz genommen hatten, kam eine Kellnerin und entzündete die Kerze auf einem geschwungenen Bronzeständer vor ihnen. Sie spendete anfangs ein unruhiges Licht und ließ die Schatten der beiden hektisch über die weiße Wand tanzen. Doch als sie ihr Essen bestellt hatten, fand die Kerze zur Ruhe und die Gesichter der beiden schienen in ihrem Glanz wie verzaubert.

      Beide verspürten das starke Bedürfnis zu reden. Angestrengt versuchten sie, Wörter für ihre Gefühle zu finden, was sich als äußerst schwierig gestaltete. Gefühle folgten immer völlig eigenen Sprachregeln jenseits von Semantik und Grammatik. Doch irgendwann ergab sich Klarheit für beide. Sie wollten es gemeinsam wagen und klaren Tisch machen. Die fünfzehn Jahre Altersunterschied blendeten die Verliebten einfach aus.

      »Sie werden dich als Pfarrer rausschmeißen«, gab Cora zu bedenken.

      »Können sie nicht. Allenfalls strafversetzen. Dann hat Leuterspring keinen Pfarrer mehr. Und bevor ich in einer fremden Gemeinde meinen Dienst aufnehmen muss, lass ich mich so lange krankschreiben, bis sie mich pensionieren.«

      Cora entgegnete seinen Überlegungen nichts. Sie fragte sich unentwegt, warum es gerade dieser Mann sein sollte, dem sie ihr Leben anvertrauen wollte? Doch so seltsam es auch anmutete, so verhielt es sich mit der Liebe. Sie konnte nur aufflackern und sich entfalten, wenn niemand die Vernunft dem zarten Pflänzchen der Vertrautheit entgegenhielt. So ließen sich beide von ihren Gefühlen leiten und in eine Glückseligkeit hineintreiben, aus der sie niemand wieder herausreißen sollte. Allerdings befielen beide große Zweifel, für die sie Worte der Besorgtheit fanden. Worte, die an diesem Abend bedeutungslos blieben und ungehört verhallten.

      Das Foto des toten Obdachlosen, das als Grund für die Verabredung hergehalten hatte, geriet fast in Vergessenheit. Nur beiläufig spielte es eine Rolle, da Cora es aus ihrer Tasche zog und Ebeling überreichte, als der für beide zahlte und sie kurz davor waren zu gehen.

      Hand in Hand schlenderten


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