Die kälteste Stunde. Dirk Rühmann
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Der erste Sonntag nach dem Leichenfund in Leuterspring war angebrochen. Die arktische Kälte hatte sich dorthin zurückgezogen, wo sich ihr Ursprung befand. Mildere Temperaturen lagen über dem Harz und sorgten für Tauwetter. Obwohl das Quecksilber nur geringfügig über den Gefrierpunkt hinaus gestiegen war, fühlte sich die Luft frühlingshaft warm an. Die Menschen atmeten tief durch nach den zwei zurückliegenden Winterwochen, von denen erst in der zweiten reichlich Schnee gefallen war. Die erste Woche war einfach nur bitterkalt und trocken.
Kirchenvogt Vahldieck hatte den geschlängelten Weg hinauf zur Kirche mit reichlich Sand abgestreut, damit die zu erwartenden Gottesdienstbesucher auch sicheren Fußes zur Kirche gelangten.
Die Glocke im Turm bewegte sich wild hin und her und ihr Klöppel mühte sich, den tiefen Klang aus ihr herauszuholen. In den letzten Minuten vor Beginn des Gottesdienstes kamen einige Menschen eilig herbei. Insgesamt wurden es sechs ältere Damen, unter ihnen auch die 92-jährige Helga Ziegler, und vier Herren, die längst im Ruhestand weilten. Der Pfarrer mit seinen sechzig Jahren war der Jüngste an diesem Morgen in der Kirche. Vahldieck kratzte sich am Kopf und fragte sich, ob es überhaupt noch lohnte, so früh aufzustehen, um das Gotteshaus für teures Geld zu heizen.
Ebelings Frau kam schon lange nicht mehr zur Kirche, weil sie offenbar keine Lust verspürte, den Worten ihres Mannes von der Kanzel zu lauschen. Auch seine Freundin Cora Dennigsen hatte es offensichtlich vorgezogen, in ihrer Wohnung in Goslar im sicherlich warmen Bett zu bleiben. Vielleicht hatte sie auch geahnt, dass Ebeling den toten Obdachlosen vom vergangenen Dienstag zum Thema seiner Predigt machen würde und einfach keine Lust darauf verspürt.
So sangen die wenigen Stimmen an diesem nicht mehr ganz so winterlichen Sonntagmorgen ein paar verstaubte Kirchenlieder. Dabei verhallten sie scheinbar im Nichts. Dann betrat Ebeling seine Bühne, auf der er zu Hause war: die Kanzel. Aufmerksam schienen ihm die wenigen Besucher seines Gottesdienstes zuzuhören.
»Liebe Gemeinde,
am letzten Dienstag fand ein armer Mensch sein trauriges Ende vor unserer Kirche, in die er sich vermutlich vor der inzwischen verflogenen eisigen Kälte flüchten wollte. Doch die Tür war versperrt. Aus Sicherheitsgründen verschließen wir sie lieber. In diesem Fall war es tragisch. Der Tote hatte zu Lebzeiten offensichtlich keine Kraft und Muße, sich zu pflegen und rein zu halten. Aber er trug ein Bild bei sich aus vergangenen Tagen. Das Bild hatte er gehütet wie seinen Augapfel. Es hat ihn vermutlich an seine Kindertage erinnert. Diese Erinnerung hat er bei sich getragen, vielleicht über vierzig Jahre lang. Das Foto zeigt ein junges Mädchen. Es wurde einst in dieser Kirche konfirmiert. Was den armen Mann mit ihr verbindet oder verbunden hat, weiß ich noch nicht. Aber ich will und werde es herausfinden. Ich denke, das bin ich Gott schuldig, wenn er schon vor den Pforten seines Hauses ums Leben kommen musste.
Das Bild, das er in der Tasche trug, strahlte Ordnung, Zuversicht und Anfang aus. Es sollte ihn ins Ende begleiten. Vielleicht hatte er das Bild vor Augen, als er starb. Was hat es ihm gesagt? Warum hat er sich diesen Ort zum Sterben ausgesucht?
Er ist bislang einer von den namenlosen Toten. Gott sagt, dass wir uns darüber freuen können, dass unsere Namen im Himmel geschrieben sind. Ich werde seinen Namen aus dem Himmel auf die Erde zurückholen.
Gott will uns etwas offenbaren. Eine Geschichte vielleicht, die uns möglicherweise alle etwas angeht. Vielleicht sind wir oder einer von uns ja Teil dieser Geschichte. Möglicherweise ist da etwas, das sich Bahn brechen will, das an die Oberfläche drängt. Damit das geschehen kann, müssen wir tief hineinsehen. Ein Bild, das Foto von dem jungen Mädchen, kann Aufschluss geben.
Gottes Wege sind oft unergründlich. Aber Gott hat uns in Jesus Christus einen Grund gelegt. Durch Jesus Christus ist auch der tote Obdachlose unser Bruder vor Gott, dem Schöpfer. Wenn wir ihm erst seinen Namen wiedergeben können, verleihen wir ihm seine Würde zurück. Möge Gott uns helfen, dass dies geschehe. Amen.«
Die wenigen Gottesdienstbesucher schüttelten dem Pfarrer beim Hinausgehen die Hand. Manche führten ein ausgedehntes Dankeschön auf den Lippen, was für Ebeling stets das Signal war, dass sie wenig bis nichts von der Predigt verstanden hatten. Andere lobten seine Predigt über den grünen Klee. Dazu fiel ihm immer Martin Luther ein, der bei derartigen Gelegenheiten gedacht oder auch geäußert haben soll, dass ihm das der Teufel auch gerade geflüstert habe.
Nur Helga Ziegler schien genau zugehört und das Anliegen des Pfarrers verstanden zu haben. Scharfsinnig urteilte sie im Hinausgehen: »Er hat kein gottgewolltes Leben geführt. Wer auch immer dieser Mann gewesen ist. Wohnungslos, arbeitslos wegen asozialen Verhaltens, dreckig und versoffen. Er hat nichts aus seinem Leben gemacht. Nur dem lieben Gott die Zeit gestohlen. Sie sollten sich Menschen widmen, die es verdient haben.«
»Das tue ich. Doch wer es wirklich verdient hat, entscheiden nicht wir Menschen allein, sondern Gott selbst. Jesus lehrte uns, dass die Kranken des Arztes bedürfen.«
»Dieser Mann ist sein Leben lang zu keinem Arzt und auch nicht in die Kirche gegangen. Er hat es so gewollt.«
»Das, liebe Frau Ziegler, wissen wir nicht. In seiner Todesstunde hat er Gott gesucht. Dem zur Rechten Jesu gekreuzigten Mann, einem gottlosen Mörder, sagt Jesus in deren gemeinsamen Todeskampf am Kreuz zu, dass er noch heute mit ihm im Paradiese sein werde. Frau Ziegler, das Christentum ist die Religion der Vergebung und die Religion des Einen-unter-den-Geringsten. Was wissen wir über diesen Geringsten, den wir deshalb gering schätzen? Was wissen wir von ihm oder über ihn, dass wir es uns erlauben können, über den Mann zu richten?«
»Sie werden es schon machen, Herr Pfarrer«, rief sie ihm noch im Fortgehen zu. Bis er den letzten Satz zu Ende gesprochen hatte, war die betagte Dame nicht mehr stehen geblieben. Ihr schien ganz offensichtlich zu missfallen, was Ebeling ihr mit auf den Weg geben wollte. Doch dann dachte der Pfarrer, dass es auch für ihre Hartherzigkeit Gründe geben mochte, die sie hartnäckig verdrängte. Aber welche? Einen Augenblick war es ihm so vorgekommen, als wenn die alte Dame den Toten kannte und wusste, um wen es sich bei ihm gehandelt hatte. Doch verwarf der Pfarrer diesen Gedanken schnell wieder.
Zwei ältere Herrschaften standen noch am Ausgang und warteten darauf, dass sie dem Pfarrer die Hand schütteln konnten. Ebeling kannte die alten Leute vom Sehen. Regelmäßige Gottesdienstbesucher waren sie nicht. Vielleicht hatte sie die Neugier in die Kirche getrieben, nachdem sie von dem seltsamen Todesfall gehört hatten. Doch schnell weckten sie beim Pfarrer größtes Interesse, als der Mann, den seine Frau unterhakte, von jenen merkwürdigen Beobachtungen am Vorabend des Leichenfundes berichtete. Ein Schrei und ein davonrasendes Auto! Aber die Beobachtungen der älteren Herrschaften taugten für keine Aussage bei der Polizei. So viel wusste der Pfarrer. Trotzdem bedankte er sich für diese Auskunft und beschloss, sie in seinem Hinterköpfchen zu behalten. Vielleicht würde das alles ja doch noch einmal irgendeine Rolle spielen.
Kapitel 13
Rita Ebeling bereitete eine Sonntagsmahlzeit vor. Sie hatte einen Schweinebraten am Vortage beim Schlachter gekauft und kochte Kartoffeln dazu mit Gemüse.
Nur kurz nahm sie zur Kenntnis, dass ihr Mann aus der Kirche ins Pfarrhaus zurückgekommen war. Jörg hängte seinen Talar in den Schrank, öffnete anschließend die Küchentür und blickte kurz hinein, um seiner Frau ein freundliches Hallo zuzurufen. Angesäuert blickte sie zur Seite und ranzte ihren Mann an: »Mach die Tür sofort wieder zu! Der Geruch zieht ja sonst durchs ganze Haus.«
Er gehorchte aufs Wort und dachte bei sich, dass er eigentlich wenig Lust auf ein gemeinsames Essen mit seiner Frau verspürte. Wenn es so schmecken sollte, wie es roch, hatte es ihm ohnehin den Appetit verdorben. Die schlechte Laune seiner Frau hinzugefügt, ließ es für ihn nur einen Schluss zu. Er ging in sein Dienstzimmer, verschloss die Tür von innen und griff zu seinem Handy.
Hoffnungsvoll lauschte er dem abgehenden Ruf und erwartete sogleich die ihm so vertraute Stimme seiner Angebeteten. Doch die