Die kälteste Stunde. Dirk Rühmann

Die kälteste Stunde - Dirk Rühmann


Скачать книгу
seinem Haus zurück. In Gedanken hing er den Worten der alten Dame nach. So hatte er sie bislang noch nicht kennengelernt. Diese Bitterkeit, die lückenlos aus ihr sprach, hätte er bei der sonst so leutseligen Frau nicht vermutet. Es stieß ihn innerlich ab. Das alles stand seinen Predigten über Nächstenliebe und Vergebung diametral gegenüber. Sie saß im Gottesdienst und hörte ihm zu. Verstanden haben konnte sie ihn nicht. Er glaubte, eine Scheinheiligkeit entlarvt zu haben.

      Sein Haus war menschenleer, als er es betrat. Wohin sich seine Frau schon wieder verkrümelt hatte, war ihm ein Rätsel. Jedenfalls war sie nicht da.

      Schnurstracks marschierte Ebeling in sein Arbeitszimmer und fuhr den Computer hoch. Dann steckte er einen Stick in das Gerät und rief seine Trauerpredigten auf. Ziemlich schnell fand er jene, die er bei der Beerdigung vom alten Börner vor über zehn Jahren gehalten hatte. Er begann zu lesen:

       Liebe Trauergemeinde,

       wir sind heute hier zusammengekommen, um Abschied von Benno Börner zu nehmen. Er wurde am 5. Juni 1928 in Königsberg geboren. Seine Kindheit spielte sich im paradiesischen Ostpreußen ab, wo er die Schule besuchte und unbeschwerte Jahre im Kreise seiner Eltern verbrachte. Der Krieg klopfte erst ziemlich gegen Ende an die Pforten des fernen Ostpreußen.

       Dann aber änderte sich das Leben des 17-jährigen Benno schlagartig. Kindheit und Jugend endeten am 27. Januar 1945, als die gesamte Familie von eben auf jetzt die Flucht über die zugefrorene Ostsee gen Westen antreten musste. Mutter und Sohn überlebten als Einzige den Todesmarsch und standen mittellos im zerbombten Deutschland.

       Doch hier ging es nach all den Entbehrungen mit Benno wieder bergauf. Er holte sein Abitur nach und begann eine Ausbildung als Autoschlosser. Später studierte er Maschinenbau und lernte dabei seine große Liebe Annegret kennen. Sie zogen in die dörfliche Idylle von Leuterspring. 1957 heirateten die beiden und drei Jahre später wurde Tochter Gabriele geboren. Was für Benno Ostpreußen in jungen Jahren gewesen war, das wurde für die einzige Tochter Leuterspring.

       1979 verstarb Ehefrau Annegret überraschend. Nun war Benno ganz auf sich allein gestellt, denn schon bald trat auch Tochter Gaby in den Stand der Ehe mit dem Arzt Doktor Schmuck ein.

       Die letzten dreißig Jahre lebte Benno Börner ziemlich zurückgezogen in Leuterspring. Er verreiste nicht mehr und wurde von zunehmenden Depressionen geplagt. Sein Tod aber kam irgendwie schnell und unvermutet.

      Dann folgten noch die biblische Auslegung und Worte des Trostes. Das also war die Biografie von Benno Börner. Zumindest handelte es sich dabei um das, was Tochter Gabriele und ihr Ehemann Doktor Schmuck von Pfarrer Ebeling wollten, dass er es über ihn sagte.

      Zurückgezogenheit und Verbitterung über das Leben! Auch Helga Ziegler war von jener Bitterkeit durchsetzt.

      So etwas kam nicht von ungefähr. Es musste irgendetwas geschehen sein, über das bislang Stillschweigen bewahrt worden war. Und es musste mit dem Toten vor der Kirche zusammenhängen. Das jedenfalls vermutete Pfarrer Ebeling, obwohl es eigentlich keinen einzigen Anhaltspunkt für diese Annahme gab.

      Die Tür fiel ins Schloss. Seine Frau musste nach Hause gekommen sein. Er hörte, wie sie Einkaufstaschen absetzte und die Kühlschranktür öffnete. Sie hatte eingekauft. Ebeling verspürte wenig Lust, sie zu sehen. Seine Gedanken kreisten um Cora.

      Er griff zum Handy und schickte ihr eine Nachricht. An den beiden blauen Haken erkannte Ebeling, dass sie seine Zeilen sogleich gelesen hatte. Dann sah der Pfarrer, dass Cora im Begriff war, zurückzuschreiben.

      So ging es eine Weile hin und her, bis am Abend eine Verabredung der beiden stand. Ihm war klar, dass er sich noch etwas einfallen lassen musste, was er seiner Frau als Grund für das geplante Fortgehen auftischte. Vermutlich glaubte sie ihm seine Geschichten längst nicht mehr und ahnte, dass es billige Ausreden waren. Wusste sie auch, dass eine andere Frau dahintersteckte?

      Coras braune Augen funkelten. Die gedimmten Glühlampen unter der Decke des Restaurants, in dem sie sich zum Essen an einen der hinteren Tische gesetzt hatten, spiegelten sich in ihnen. Verliebt schauten die beiden einander an.

      Sie hatten Bad Harzburg als Treffpunkt gewählt. Interessiert studierten sie die Speisenkarten und lasen sich gegenseitig jene Gerichte vor, die auf ihren anfänglichen Geschmack trafen. Irgendwann fiel die Entscheidung und sie bestellten ihr jeweiliges Menü. Cora bevorzugte Fisch, während Jörg gern Fleisch aß. Da sie beide mit dem Auto hierhergekommen waren, tranken sie Alkoholfreies, wenngleich ihnen ein trockener Rotwein lieber gewesen wäre.

      »Hast du inzwischen reinen Tisch gemacht oder bin ich noch immer deine heimliche Mätresse?«, fragte sie ihn schließlich.

      »Ich wollte es ihr sagen, aber ich konnte es noch nicht. Der richtige Augenblick dafür – er war noch nicht da.«

      »Den richtigen Augenblick für so etwas wird es wohl nie geben. Dir fehlt der Mut. Den musst du aufbringen, wenn du mich wirklich haben willst.«

      »Ich will dich. Dessen bin ich mir sicher. Nur dich. Aber ich habe Angst, meine Frau zu verletzen, ihr wehzutun.«

      »Trennung bedeutet nun mal Schmerz.«

      »Ja. Ich habe eine neue Freundin und meine Frau steht allein da. Das ist irgendwie nicht fair.«

      »Deine Frau mit mir zu betrügen geziemt sich für einen Pfarrer erst recht nicht.«

      »Ich weiß, Liebes. Morgen werde ich es ihr beichten. Ohne Rücksicht auf Verluste.«

      »Na hoffentlich. Und was machen deine Recherchen in Sachen Todesfall vor deinem Gotteshaus?«, wollte Cora nun von ihm wissen.

      »Ich komme ganz gut voran. Ich weiß jetzt, wer das junge Mädchen auf dem Foto ist, das der Tote bei sich hatte. Ich habe sogar vor ungefähr zehn Jahren ihren Vater beerdigt. Eine treue Gottesdienstbesucherin von 92 Jahren war einst die Patentante dieses Mädchens. Sie hat nicht besonders gut über sie gesprochen. Vielleicht war der Tote ein früherer Freund des Mädchens.«

      »Und weshalb kommt der nach so vielen Jahren nach Leuterspring zurück?«

      »Keine Ahnung. Das werde ich noch rausfinden müssen.«

      »Wie willst du das denn? Und was soll es bringen? Der Tote war ein Obdachloser. Ein Alkoholiker.«

      »Zunächst einmal war er ein Mensch.«

      »Ja, Jörg. Ich habe das Foto, das wir von dem Toten gemacht haben, an die sozialen Medien und die überregionale Presse weitergegeben. Das weißt du doch. Keine Reaktion. Ich habe es auch nicht anders vermutet. Es bleibt ein tragischer Todesfall, für den wir keine Erklärung haben und sicherlich auch nicht bekommen werden. Für die Staatsanwaltschaft ist es kein Fall. Ich habe genug anderes zu tun.«

      »Ich habe die Zeit und die Motivation, die rätselhafte Geschichte zu ergründen. Vielleicht werde ich nicht weiterkommen. Aber das wird sich zeigen. Möglicherweise weiß Frau Schmuck, das Mädchen vom Foto, wer der Mann war, der ihr Bild so sorgfältig aufbewahrt hatte und nach Leuterspring gekommen ist, um dort zu sterben.«

      »Warum willst du das alles in Erfahrung bringen?«

      »Ich glaube, Gott hat es mir aufgetragen.«

      »Wie denn?«

      »Indem er den Toten vor meine Kirchentür gelegt hat.«

      »Man kann dich von deinem Vorhaben nicht abbringen. Was du dir einmal in den Kopf gesetzt hast, das ziehst du durch. Nicht wahr?«

      Der Pfarrer nickte.

      »Nur was uns anbelangt, da machst du keinen reinen Tisch mit deiner Frau.«

      Ebeling senkte verlegen seinen Kopf.

      Die Speisen wurden serviert.


Скачать книгу