Die kälteste Stunde. Dirk Rühmann
Kirchenvorstand hat es so beschlossen. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, Gottes Haus zu verschließen und den Menschen den Zutritt dazu zu verwehren«, sagte er gedankenversunken vor sich hin.
Cora Dennigsen hatte Mühe, auf Ebelings Gedankenwechsel einzuschwenken. Seinen Blicken nach zu urteilen, hätte sie nicht vermutet, dass seine ersten Sätze in ihrer Gegenwart dem Toten vor seinem Gotteshaus gelten würden. Sie zeigte sich innerlich ein bisschen enttäuscht.
»Der Tote war ein Stadtstreicher und stinkbesoffen. Vermutlich hat er in der Kirche Zuflucht vor der eisigen Kälte gesucht«, reagierte sie nun etwas schroff und sachlich.
»Rettende Wärme und Geborgenheit. Er hat sie dort gesucht, wo er sicher war, sie zu finden und sie hätte finden müssen. Aber Gott hatte geschlossen. Keine Sprechstunde, auch nicht für Notfälle«, sinnierte der Pfarrer.
Sprach er nur von Wärme und Geborgenheit in der Theorie und wollte er nicht sehen, dass Cora ihm in diesem Augenblick innerlich so nahe war, dass er nur zuzufassen brauchte? All ihre Ängste vor Konsequenzen mit der Ehefrau und den Gemeindegliedern schienen in diesem Moment von ihr gewichen. Doch den Pfarrer beschäftigte im Augenblick nur der Tote. Also ging die Staatsanwältin sogleich darauf ein.
»Hierher hat sich doch in all den Jahren noch nie ein Penner verlaufen, oder?«, rückversicherte sie sich.
»Nein. Noch nie. Man konnte nicht davon ausgehen, dass so etwas passiert. Was wirst du jetzt machen? Du bist extra aus Goslar angereist.«
»Als ich gehört habe, dass es sich um deine Kirche handelt, dachte ich mir, fahr doch mal rüber.«
»Nett von dir«, lächelte Ebeling sie an und schien sich wieder auf sie zu konzentrieren.
Doch Cora blieb jetzt gezielt dienstlich. »Sie sollen ihn obduzieren, auch wenn das vermutlich Blödsinn ist. Der neue Oberstaatsanwalt wird mir wahrscheinlich Übereifer vorwerfen.«
»Er ist doch ein Hardliner. Begegne ihm genau dort, wo er abgeholt werden will. Sag ihm, dass du ein Verbrechen ausschließen können musst.«
»Der dreht alles so, wie er es braucht. Ich weiß noch nicht, wie ich die nächsten Jahre mit diesem Mann an der Spitze in unserm Justizpalast verbringen soll. Vielleicht lasse ich mich versetzen.«
»Au ja. An die Ostsee. Ich komme mit.«
Betreten sah Cora Jörg von der Seite an.
»Zeig mir noch einmal das Foto, das der Tote bei sich hatte«, bat Ebeling die Staatsanwältin, um sie von einer möglichen Antwort auf sein Ansinnen abzulenken.
Sie zog argwöhnisch die rechte Augenbraue nach oben und nahm es aus ihrer Aktentasche, in der sie es verstaut hatte. Auf dem Küchentisch strich Cora das Foto glatt.
Sie besahen es sich beide ein weiteres Mal. Es handelte sich um eine ziemlich alte Aufnahme, deren Farben stark verblasst waren. Im Vordergrund stand ein Mädchen mit langen blonden Haaren, einem weißen T-Shirt, einer Bluejeans mit breitem Schlag und hölzernen Klapperlatschen an den nackten Füßen.
»Jeans mit einem solchen breiten Schlag waren in den Siebzigern ebenso große Mode wie Klapperlatschen. Fast jedes Mädchen, aber auch viele Jungen sind damals mit diesen Holzdingern durch die Gegend gelaufen. Doch ich frage mich, warum der Tote keinen Ausweis, aber dieses alte Foto bei sich hatte. Im Gegensatz zu seiner Kleidung ist es bestens erhalten. Warum? Wer ist das Mädchen mit den Klapperlatschen?«
»Wie alt mag sie da sein?«, wollte die Staatsanwältin wissen.
»Fünfzehn oder sechzehn, würde ich sagen.«
»Das heißt, dann ist sie inzwischen um die sechzig, wenn sie damals wirklich so jung war und heute noch lebt und das Foto tatsächlich so ungefähr Mitte der Siebzigerjahre aufgenommen worden ist.«
»Auf über sechzig würde ich den Toten auch mindestens schätzen«, merkte Ebeling an.
»Mal sehen, was die Obduktion ergibt«, stellte Cora Dennigsen fest und steckte das Foto wieder ein.
»Heb das gut auf!«, riet ihr der Pfarrer.
»Wenn kein Verbrechen vorliegt, handelt es sich auch um keinen Fall. Dann bringe ich es dir wieder mit und schenke es dir. Nun muss ich ins Büro, sonst zieht mir mein neuer Chef die Hammelbeinchen lang.«
»Um deine wunderschönen Beine kümmere ich mich lieber selbst«, lachte der Pfarrer.
Doch Cora Dennigsen überging seine zweideutig eindeutige Bemerkung mit einem müden Lächeln. Der Moment war verstrichen, der alles hätte verändern können. Ein Toter lag zwischen ihren Gefühlen und genoss höhere Priorität.
Kapitel 4
Der Amtsvorgänger des neu eingeführten Oberstaatsanwalts Dr. Jünger hatte immer die Distanz zu seinen Kollegen gewahrt und war nie einfach in das Büro eines Staatsanwalts hereingeplatzt. Doch der Nachfolger scherte sich um Diskretion einen Dreck. Ohne anzuklopfen drang er in Cora Dennigsens Büro ein und stellte sie wegen der angeordneten Obduktion des toten Stadtstreichers zur Rede.
»Sie haben ganz offensichtlich nichts Wichtigeres zu tun. Haben Sie sich den Aktenberg einmal angesehen, der sich hier, aus welchen Gründen auch immer, aufgetürmt hat?«
»Wollen Sie mir unterstellen, dass ich meine Arbeit zu langsam oder unvollständig mache?«, zeigte sie sich empört über diesen Auftritt.
»Die Staatsanwaltschaft arbeitet nicht effizient genug. Viel zu viele Strafsachen bleiben zu lange auf unseren Schreibtischen liegen. Wenn die Dinge vor Gericht kommen, wissen Beschuldigte häufig nicht einmal mehr, weswegen sie überhaupt vor Gericht stehen. Das muss sich ändern. Und das wird sich ändern. Es ist tragisch, wenn ein Stadtstreicher wegen der lausigen Kälte erfriert. Aber wir können uns nicht damit aufhalten, diesen Fall als Offizialdelikt zu behandeln. Das ist er nämlich nicht. Der Mann war ein Trinker und jetzt, wo es kalt geworden ist, da ist ihm eingefallen, dass er kein Dach über dem Kopf hat. Einer von denen, die nicht einmal für sich selbst Verantwortung übernommen haben. Da muss der Steuerzahler nicht noch für eine kostspielige und völlig sinnlose Obduktion zur Kasse gebeten werden.«
»Wir kennen nicht einmal die Identität des Toten. Alkoholisiert ist er gewesen, als er gestorben ist. Das konnte man riechen. Dass es sich um einen Stadtstreicher handelt, nehmen wir aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes an. Wissen tun wir das nicht. Zu einer guten Arbeit der Staatsanwaltschaft gehört eine sorgfältige Ermittlung. Ich möchte Fremdverschulden ausschließen.«
»Liebe Frau Dennigsen, wer soll denn einen Penner umbringen und dafür lebenslangen Knast riskieren? Ein Mord braucht ein Motiv. Das sehe ich in diesem Fall nicht im Mindesten.«
»Sagen Sie bitte nicht liebe zu mir. Sehr geehrter Herr Oberstaatsanwalt, bisher konnten wir hier in eigener Verantwortung arbeiten und unser Vorgesetzter hat uns vertraut. So würde ich das gern in Zukunft auch handhaben.«
»In Zukunft befolgen Sie Anweisungen. Ich muss Sie wohl nicht daran erinnern, dass Sie als verbeamteter Mensch – ich hoffe, ich habe mich in Gendersprache korrekt ausgedrückt – weisungsgebunden sind. Ich bin als Ihr Vorgesetzter dafür verantwortlich, dass diese Behörde künftig effizienter arbeitet. Da können wir uns nicht mit Bagatellen aufhalten. Oder haben Sie einen Anfangsverdacht?«
»Was bitteschön soll ein Anfangsverdacht sein? Verdacht ist Verdacht.«
»Ich muss Sie ja wohl nicht über den Terminus Anfangsverdacht aufklären. Dieser Begriff ist in unserem Berufsstand allgemein üblich. Spielen Sie hier bitte nicht die Oberlehrkraft. Haben Sie nun einen solchen Verdacht? Ja oder nein?«
»Nein.«
»Also, in Zukunft nichts ohne mein ausdrückliches Einverständnis. Diese Aktion bleibt Ihre einzige eigenmächtige. Ich hoffe, wir haben uns verstanden. Schönen Tag noch.«
Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ schwungvoll