Die kälteste Stunde. Dirk Rühmann

Die kälteste Stunde - Dirk Rühmann


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jeden. Doch an diesem so kalten Dienstagmorgen sollte es anders kommen. Noch bevor Hans-Werner Vahldieck, der vom Kirchenvorstand offiziell zum Kirchenvogt ernannt worden war, die Kirchentür erreichte, blieb er kurz stehen, um zu verschnaufen. Er hatte das Ziel seines Fußmarsches greifbar nahe vor Augen, als er etwas Ungewöhnliches am Boden erspähte.

      Neben der Eingangspforte zum Gotteshaus lag etwas, das aufgrund seiner Länge ein Mensch sein konnte. Ein schlafender Mensch draußen bei dieser Kälte?

      Die restlichen Schritte bis zum Gotteshaus lief Vahldieck, um eilig nachzusehen, was er dort fände. Neben dem Weg zur Eingangstür direkt auf dem verschneiten Rasen lag ein ziemlich heruntergekommener Mann, der dreckige und löcherige Kleidung trug. Sein Gesicht war rot gefroren und durch eine Narbe gezeichnet, die tief in die Haut seiner linken Wange gegerbt war und wie ein Peitschenhieb aussah. Ansonsten lag das Gesicht in tiefen Falten über einem unrasierten Kinn. Eine Glatze kam unter einer Kapuze zum Vorschein. Sie war verrutscht und bedeckte nur noch den hinteren Teil seines kahlen Kopfes. Die Augen waren verschlossen, als ob er schliefe. Trotzdem war für den Kirchenvogt unschwer zu erkennen, dass die eisige Kälte diesem Menschen das Leben geraubt zu haben schien. Als er sich zu dem Toten hinunterbückte, flatterte ihm eine mächtige Alkoholfahne entgegen, die sich vom Tod ganz offensichtlich unbeeindruckt zeigte.

      Nun streifte er sich die Handschuhe ab, griff mit der rechten Hand in seine Jackentasche, wo seine vor Kälte steifgefrorenen Finger nach dem Handy suchten. Nachdem der inzwischen sehr nervös gewordene Kirchenvogt es unter mehreren dort verstauten Dingen ausgemacht hatte, holte er es heraus und setzte einen Notruf ab. Er blieb dabei in gebückter Haltung, als ob der Tote es mitbekommen könnte, was Vahldieck seinem Handy anvertraute.

      Dann richtete er sich auf, atmete tief durch und öffnete die Kirchentür. Da die Kälte trotz seiner warmen Kleidung für ihn unerträglich war, ging er in das Gotteshaus hinein und drehte dort die Heizung an. Deshalb war er ja eigentlich hierhergekommen. Am Mittag würde eine Hochzeit stattfinden, für die das Kirchenschiff geheizt werden sollte. Freud und Leid!, schoss es Vahldieck durch den Kopf. Trotzdem kam dem hageren Mann das alles äußerst seltsam vor. In Leuterspring war doch noch niemals ein Obdachloser gesehen worden!

      Nachdem die Heizung angesprungen war, stellte er sich in die Tür, rieb sich die kalten Hände und starrte hinaus in den sonnigen Morgen, bis er von ferne die Martinshörner hörte.

      Pfarrer Jörg Ebeling hatte im letzten Sommer seinen 60. Geburtstag groß gefeiert. Seit Jahrzehnten war er der gute Hirte, der seine Schäfchen immer wieder zusammenführte und behütete. Aber um seine Ehe war es nicht mehr so gut bestellt. In Leuterspring war es ein offenes Geheimnis, dass das Pastorenehepaar getrennte Wege ging, obwohl die beiden weiterhin unter einem Dach wohnten, aber nicht mehr dasselbe Bett teilten. Was genau die Eheleute auseinandergebracht hatte, wusste niemand im Dorf so genau. Manchmal hatte es den Anschein, als wüssten die beiden Streithähne selbst nicht mehr, warum sie sich entzweit hatten.

      Der Geistliche hatte erst kürzlich mit einer zündenden Idee für neuen Schwung im Gemeindeleben gesorgt. In Zusammenarbeit mit dem niedlichen Hotel von Leuterspring organisierte er Fastenurlaube mit spirituellem Input. Hierbei war ihm die attraktive Cora Dennigsen, eine Staatsanwältin aus Goslar, über den Weg gelaufen, die fünfzehn Jahre jünger als er war und als Single kinderlos durchs Leben marschierte. Von Anfang an war es mehr als die schwarze Robe gewesen, die sie in ihren verschiedenen Berufen miteinander verband und irgendwie einte. Er hatte sich Hals über Kopf in die wesentlich jüngere Frau verliebt. Sie war nicht abgeneigt, blieb dem Pfarrer gegenüber jedoch auf Distanz, da sie größere Probleme fürchtete. Ein Ort wie Leuterspring würde einen derartigen Skandal vielleicht nicht verkraften. Außerdem wollte die Staatsanwältin sich nicht in eine bestehende Ehe einmischen, die für Ebeling jedoch nur noch auf dem Papier bestand.

      Seine Frau war schon früh zur Arbeit gefahren. Die 58-Jährige arbeitete als Lehrerin an der dorfeigenen Grundschule. Ebeling stand hinter der zugezogenen Gardine am Fenster seines Wohnzimmers und blickte nach draußen in Richtung Kirche. Längst hatte Vahldieck ihn angerufen und von dem schrecklichen Fund vor dem Gotteshaus berichtet. Doch die eisige Kälte hielt den Geistlichen zurück, das Pfarrhaus zu verlassen. Er sah die Sanitäter den geschlängelten Weg zur Kirche hinauflaufen.

      Als nun auch zwei Polizeibeamte erschienen, eine junge Frau mit blonden langen Haaren und ein etwas älterer Mann mit kurzen grauen Haaren, beide in Dienstuniform, hielt es den Pfarrer nicht mehr länger zurück. Ihm schien die grimmige Kälte auf einmal egal zu sein, die ihn bislang abgeschreckt hatte. Er zog sich warm an. Dann verließ er das Haus und ging ebenfalls zur Kirche, wo sich etwas Unerfreuliches ereignet hatte.

      Als er an der Kirchentür ankam, wagte er einen Blick zu dem Mann am Boden, dessen Tod von einem Notarzt festgestellt wurde, woraufhin die Rettungssanitäter ihre Erste-Hilfe-Koffer wieder verschlossen.

      Nun bückte sich die junge Polizistin zu dem Toten hinunter und durchsuchte seine zerrissene Kleidung. Alles, was sie fand, war ein gut erhaltenes Foto, das der Verstorbene in der Innentasche seines dreckigen Mantels verstaut hatte. Einen Pass oder Ausweis, der über seine Identität hätte Auskunft geben können, fand sie hingegen nicht.

      Kirchenvogt Vahldieck kam nun aus der sich langsam ausbreitenden wohligen Wärme des Gotteshauses ebenfalls in die Kälte nach draußen und grüßte die dort Anwesenden kurz. Dann kam es zu einem klärenden Gespräch zwischen ihm und dem Polizeibeamten, das der Pfarrer interessiert mitanhörte.

      Die Polizistin stellte zeitgleich fest, dass ja die Staatsanwältin im Anmarsch sei, woraufhin Pfarrer Ebeling sich überrascht umdrehte und seine Angebetete den geschwungenen Weg zur Kirche heraufkommen sah.

      Cora Dennigsen wünschte einen guten Morgen und machte gleich danach die Einschränkung, dass ein Morgen nicht mehr gut sein könne, der mit einem Toten begänne. Sie schüttelte niemandem die Hand und beachtete auch Ebeling nicht, worüber er sich natürlich erleichtert zeigte. Einen Augenblick hatte sein Atem gestockt. Heimlich bewunderte er die hübsche Frau, die ebenfalls eine Pudelmütze trug, unter der ihre langen dicken braunen Haare zum Vorschein kamen.

      Die Juristin besah sich nun auch den Toten und zeigte sich von dessen Alkoholfahne angewidert. Die junge Polizistin teilte ihr unaufgefordert mit, dass sie keinen Ausweis bei ihm gefunden habe und deshalb nichts über dessen Identität aussagen könne. Sie händigte der Staatsanwältin das Foto aus, das sie in der Mantelinnentasche des vermutlich erfrorenen Mannes gefunden hatte, der allem Anschein nach ein Stadtstreicher gewesen sein musste.

      Cora Dennigsen besah sich das Foto genauer. Pfarrer Ebeling stellte sich hinter seine Angebetete und begutachtete das Bild ebenfalls. Er genoss ihre Nähe, zeigte sich von dem Duft angetan, der sie umhüllte, und wusste, dass niemand Verdacht schöpfen würde, wenn er ihr in diesem Moment so nahe war.

      Notarzt und Rettungssanitäter zogen ab. Der Polizeibeamte fragte die Staatsanwältin, ob er einen Bestatter verständigen dürfe und wohin der Tote gebracht werden solle.

      »In die Gerichtsmedizin. Da wir keine Identität des Toten besitzen, möchte ich ausschließen, dass Fremdeinwirkung die Todesursache gewesen sein könnte«, sagte Cora Dennigsen.

      Wegen der bitteren Kälte gingen Staatsanwältin und Pfarrer zusammen zum Pfarrhaus und verschwanden dort im Innern des Gebäudes.

      Kirchenvogt Vahldieck störte sich nicht daran. Er hatte die Staatsanwältin schon des Öfteren in der Kirche gesehen. Nun war sie aus dienstlichen Gründen hier erschienen.

      Ebeling taute regelrecht auf, als er in Begleitung von Cora sein Haus betrat. Beide legten ihre warme Kleidung ab und setzten sich über Eck um den Küchentisch, von dem aus sie einen ungehinderten Blick auf die Kirche und somit das Geschehen vor deren Tür hatten.

      Verliebt schaute der Pfarrer die Staatsanwältin von der Seite an. Sie genoss das und beschloss, nicht Nein zum Interesse dieses Mannes an ihr zu sagen.

      »Die ganze Zeit, in der ich hier jetzt der Pastor bin, hat es so etwas


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