Das Audit. Anne Buscha
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Anne Buscha
DAS AUDIT
Kriminalroman
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2021
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte
bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
Copyright (2021) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Korrektorat: Kerstin Hohmann, Petra Leonhardt
Umschlagfoto: Andreas Buscha
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
Inhalt
Donnerstag, 10. Juni (1. Audit-Tag)
Freitag, 11. Juni (2. Audit-Tag)
3 Monate Später, Mitte September
MITTWOCH, 2. JUNI
Dieser Mittwoch Anfang Juni war ein besonders sonniger, warmer Tag. Man hatte das Gefühl, dass es noch mehr Menschen als sonst in die Rotterdamer Innenstadt trieb, um dort die Geschäfte, Fastfood-Restaurants und die Terrassen der Cafés zu füllen. Durch dieses Gedränge schob sich auch Leni Weber auf ihrem Weg zur Arbeit. Mit ihrer großen Tasche in der Hand blieb sie kurz vor den Schaufenstern eines riesigen Schuhgeschäfts stehen, das seit zwei Tagen mit fünfzigprozentigen Rabatten warb. Sie überlegte, ob sie einen kleinen Abstecher wagen sollte, entschied sich aber dagegen. Zum einen war der Laden mit kauffreudigen Damen an der Grenze seiner Platzkapazitäten angelangt, zum anderen unterband ihr Kontostand im Moment Kaufaktivitäten, die über die alltäglichen Bedürfnisse hinausgingen. Nichtsdestotrotz war Leni guter Dinge. Sie hatte noch reichlich Zeit, sich im Institut für deutsche Sprache und Kultur, für das sie als Honorarlehrkraft im Bereich Deutsch als Fremdsprache tätig war, auf ihren Abendkurs vorzubereiten. Zügigen Schrittes überquerte sie die kleine Brücke über die Gracht auf dem Westersingel, der mit einer Reihe von Skulpturen auf bemerkenswerte Weise den Weg zum Museumspark wies.
Das Institut war aufgrund seiner zentralen Lage in der Nähe des Bahnhofs Rotterdam Centraal, schräg gegenüber dem Konzertgebäude De Doelen und einem großen Parkhaus, für Besucher einfach zu erreichen. Die Front des Hauses passte mit den hohen Fenstern und den hellen Klinkersteinen perfekt zu den angrenzenden Gebäuden mit einer ähnlichen Fassadenansicht, die einen chinesischen Supermarkt sowie eine chinesische Kirchengemeinde beherbergten. Allerdings standen die zweisprachigen deutsch-niederländischen Aushänge mit Hinweisen auf Kulturveranstaltungen oder Sprachkurse in den Fenstern der Bibliothek in einem deutlichen Kontrast zu den beleuchteten chinesischen Schriftzeichen auf der rechten und linken Seite. Den Kampf um die Aufmerksamkeit der vorbeieilenden Passanten konnten die Ankündigungen im Posterformat jedoch nicht für sich entscheiden. Immerhin leisteten die Leuchtröhren nach Goethes Farbenlehre, die unterhalb der Fenster in der ersten Etage angebracht waren, der chinesischen Farbenpracht abends eine gewisse Gegenwehr. Das Gebäude selbst, Eigentum des deutschen Staates, war nicht so historisch, wie es die Straßenansicht vermittelte, denn es wurde erst Ende der 1990er Jahre im Auftrag des deutschen Außenministeriums komplett entkernt, neu aufgebaut und im Jahr 2000 eingeweiht. Zudem hatte es durch einen zusätzlichen Anbau an der Rückseite eine von außen nicht zu vermutende Tiefe.
Im Eingangsbereich befand sich ein offener, halbrunder Tisch, an dem auch an diesem Tag Hieronymus saß. Hieronymus Wachtel, das Kind eines Künstlerehepaars, hatte an der Kunsthochschule in Dresden Malerei studiert und war nach einem halbjährigen Stipendium im Rahmen eines Austauschprogramms mit Künstlern beider Partnerstädte in Rotterdam hängen geblieben. Nun verdiente er seinen Lebensunterhalt als Rezeptionist und wartete auf die große Gelegenheit einer eigenen Ausstellung im Institut oder anderswo. Leider mangelte es seiner Kunst bisher an der nötigen Anerkennung, weshalb er mit Fotos seiner abstrakten Ölgemälde, die er während seiner Dienstzeit auf dem Empfangstresen auslegte, Besucher auf seine Talente aufmerksam machen wollte. Mit den Fotografien, seiner fantasievollen Kleidung, dem kunstvoll geflochtenen Haar und den bunten Bändchen, die geschickt um Arme und Beine geschlungen waren, verlieh er der ansonsten nüchternen Rezeption eine gewisse kreative Atmosphäre.
Als Leni gegen 17 Uhr das Gebäude betrat, hob sie kurz den Arm zur Begrüßung und eilte zur Treppe. Noch während er den Hörer des klingelnden Telefons abnahm, rief Hieronymus: „Warte mal, es gibt ein paar Neuigkeiten.“ Leni blieb stehen und lief zurück. „Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Welche willst du zuerst hören?“
„Erst die schlechte. Das Gute bitte zum Schluss.“
„Okay. Ich beginne mit der schlechten: Beate Neumann ist tot. Ein Nachbar hat sie gestern Abend in ihrer Wohnung gefunden. Die Tür stand wohl sperrangelweit auf.“ Hieronymus machte eine kurze Pause, den Hörer hielt er noch immer in der Hand. „Sie lag neben dem Sofa – mit Blut am Kopf.“
„Und was ist die gute Nachricht?“
„Beate Neumann ist tot.“ Jetzt lächelte er verschmitzt und wendete sich mit seinem telefonischen Willkommensgruß: „Institut für deutsche Sprache und Kultur. Was kann ich für Sie tun?“, dem Anrufer zu.
Da es in dem Gebäude keinen Fahrstuhl gab, musste sich jeder, der die Klassenräume in der ersten, die Büros in der zweiten Etage oder das Lehrerzimmer unterm Dach erreichen wollte, sportlich betätigen und Treppen steigen. Für