Das Audit. Anne Buscha

Das Audit - Anne Buscha


Скачать книгу
ein paar Gläschen zu viel zugegeben hatten, an einen Lift bei ihrer Planung schlichtweg nicht gedacht zu haben. Als Leni, schon leicht außer Atem, die vorletzte Stufe zur zweiten Etage genommen hatte, kam ihr der Leiter der Sprachabteilung, Klaus Dieter Wisch, entgegen.

      „Leni“, er blieb kurz stehen, „gut, dass du schon da bist. Furchtbar, nicht? Die Sache mit Beate.“

      „Ja. Hieronymus hat es mir gerade erzählt. Was ist denn passiert?“

      „Das wissen wir noch nicht genau. Ich habe nur gehört, dass die Polizei in Beates Wohnung war. Sag mal, kannst du den Kurs von Beate übernehmen? Den C2-Kurs morgen Abend, die Weit-Fortgeschrittenen. Es muss ja irgendwie weitergehen und du bist die Einzige, die so schnell einspringen kann. Du hast doch morgen keinen Unterricht, oder?“ Die Antwort wartete er nicht ab. „Ich traue dir das C2-Niveau auch zu, Leni. Das schaffst du mit links.“ Der Nachsatz war ihm noch rechtzeitig eingefallen und er verfehlte seine Wirkung nicht.

      „Klar, das mache ich.“ Abgesehen davon, dass sich die Angesprochene ein bisschen geschmeichelt fühlte, profitierten von dem Vorschlag beide: Der Sprachabteilungsleiter hatte ein Problem weniger, Leni ein paar Unterrichtsstunden, also auch ein paar Euro mehr.

      Oben in der dritten Etage roch es, wie immer um diese Zeit, nach Ozon. Der Kopierer stand direkt vor dem Lehrerzimmer und war gerade dabei, massenweise Seiten zu produzieren, zu sortieren und zu stapeln. Das alte Schild mit der Raumbezeichnung Lehrerzimmer, das neben der Tür befestigt war, fehlte seit einiger Zeit. Es entsprach nicht mehr der neuen gendergerechten Sprachregelung. An diesem Mittwoch sah Leni zum ersten Mal die neue, zweisprachige Variante: Lehrende / Docenten. Als sie die Tür öffnete, standen Martin Behrens und Elli Geiger am Bücherregal und blätterten in Lehrmaterialien. Birgit Kaminski saß an dem großen, ovalen Arbeitstisch in der Mitte des Raums und schnitt aus A4-Bögen kleine Kärtchen aus. Leni war offensichtlich nicht die Einzige, die ihren Abendkurs im Institut vorbereiten wollte. Das lag vermutlich auch daran, dass sich der Raum mit der Lehrerhandbibliothek, dem riesigen Tisch, den drei Computern an der Seite und dem schnellen Schwarz-Weiß-Drucker dazu an und für sich gut eignete. Eine Voraussetzung für das ungestörte Arbeiten war allerdings, dass nicht zu viele Kollegen gleichzeitig auf diese Idee kamen. Und noch besser wäre es, wenn das Chaos vor dem Drucker, das den ungehinderten Zugang stark beeinträchtigte, irgendwann einmal von seinem Urheber, dem Hausmeister und IT-Verantwortlichen Rob Lorenz, beseitigt würde. Der hatte dort allerlei Werkzeug und einige Geräte geparkt, die nicht nur viel Platz einnahmen, sondern den Raum in eine Art Abstellkammer verwandelten.

      Lenis leises Hallo! wurde von Martin und Elli erwidert, Birgit brauchte es etwas dramatischer. „Hast du es auch schon gehört? Das mit Beate.“

      „Ja, furchtbar“, bestätigte Leni, obwohl sie Beates Ableben, wie Hieronymus, eher in die Kategorie gute Nachrichten eingeordnet hätte. Sie lief zu ihrem Fach, nahm ihre Klassen- und Anwesenheitsliste heraus und entschied sich kurzfristig dafür, die weitere Arbeit im Klassenraum fortzusetzen.

      „Ich bin fix und fertig. Ich kann heute nicht unterrichten. Das ist unmöglich“, legte Birgit nach und ließ die Schere, mit der sie durch das Ausschneiden der Kärtchen genau den Unterricht vorbereitete, den sie ihrer Meinung nach nicht geben konnte, laut auf den Tisch fallen.

      „Tut mit wirklich leid, Birgit. Ich habe im Moment keine Zeit zum Reden, ich muss noch einiges vorbereiten.“ Damit schloss Leni die Tür hinter sich.

      Im Büro der Institutsleiterin Martina Müller-Bär herrschte angespannte Stimmung. Die Leiterin saß an ihrem Schreibtisch, auf dem sich neben dem Computer ausgedruckte Mails, Veranstaltungsprogramme, Kunstkataloge und Kalender in verschiedenen Größen stapelten und Besucher beim Anblick des Papierberges sofort ahnten: Hier wird hart gearbeitet. Vor ihr stand Klaus Dieter Wisch und suchte nach den richtigen Worten. Seine körperliche Haltung und seine Gesten verrieten einen gewissen innerlichen Druck.

      „Ich müsste mal mit dir reden wegen des Audits, das Mitte nächster Woche stattfinden soll. Vielleicht können wir das nach dem tragischen Tod unserer Sprachkursbeauftragten verschieben?“

      Dieses Ansinnen hatte Frau Müller-Bär bereits erwartet. „Du brauchst gar nicht weiterzureden. Ich habe schon mit London und München telefoniert, das Audit findet zur geplanten Zeit statt. Die Auditoren haben ihre Flüge schon lange gebucht, die Hotelzimmer sind reserviert, wir machen da jetzt keinen Rückzieher.“ Damit war für sie alles gesagt und sie drehte ihren Kopf wieder zum Bildschirm.

      Doch der Leiter der Sprachabteilung ließ sich nicht so leicht abwimmeln. „Es gibt da noch eine Menge zu tun und ich weiß nicht, ob wir das alles schaffen. Beate hatte die Organisation des Audits vollständig in ihrer Hand. Ich bin da gar nicht so auf der Höhe …“ Weiter kam er nicht.

      „Ihr hattet genug Zeit für die Vorbereitungen. Dann wirst du dich eben mal um die Sache kümmern, es ist ja schließlich deine Abteilung und nicht meine. Ich muss jetzt noch arbeiten. Wir eröffnen morgen hier im Institut eine Ausstellung und ich habe heute Abend noch einen wichtigen Termin.“ Sie spielte mit den Fingern an ihrer überlangen Kette und wendete sich erneut demonstrativ ab.

      „Schon klar, Martina.“ Jetzt gab Klaus Dieter Wisch auf und schlich aus dem Büro.

      Nachdem Leni im Klassenraum das elektronische Whiteboard angeschaltet hatte, checkte sie ihre Mails, schrieb den Unterrichtsablauf ins Online-Klassenbuch und warf noch einen Blick ins Lehrbuch. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Der Tod der Kollegin, deren Hauptaufgabe es war, die Sprachkurse zu organisieren, beschäftigte sie mehr als der anstehende Unterricht. Über die genaue Todesursache konnte sie ja noch nichts in Erfahrung bringen, aber es war nicht auszuschließen, dass sich Beate, außer bei ihr, bei noch jemandem so richtig unbeliebt gemacht hatte. Und diese Person könnte sich nun in einer für Beate Neumann sehr nachteiligen Form gerächt haben. Jemand aus dem Kollegium vielleicht?

      Die ersten Kursteilnehmer, zwei Männer mittleren Alters, beide Niederländer, betraten den Klassenraum. Leni fragte wie immer nach der Anreise und dem Verkehr. In Rotterdam war gegen 18 Uhr auf den Straßen die Hölle los. Viele Teilnehmer wie die Beamten einiger internationaler Behörden in Den Haag oder die Mitarbeiter von Rotterdamer Firmen, die intensiven Kontakt mit Deutschland hatten, nahmen lange Anfahrtszeiten in Kauf, um abends von 18:30 bis 21:00 Uhr ihre deutschen Sprachkenntnisse zu verbessern. Aus Den Haag war man um diese Zeit mit dem Zug viel schneller als mit dem Auto, bei dem mindestens 30 Minuten Wartezeit im Stau dazugehörten. Aber auch an diesem Tag wurden die Verkehrsprobleme irgendwie bewältigt und Punkt 18:30 Uhr waren zwölf der dreizehn Lernenden anwesend, der Unterricht konnte pünktlich beginnen. Alles lief wie geplant und ohne besondere Vorkommnisse. Dennoch war der Lehrerin eine gewisse Enttäuschung anzumerken, die sich in ihrem Blick verriet, wenn sie bei jedem Geräusch auf dem Flur zur Tür schaute und sich diese dann nicht öffnete. Zu den kurzen enttäuschenden Momenten gesellte sich noch die Angst vor einer eventuell platzenden Naht. Mit dem Ziel, etwas schlanker zu wirken, hatte sie sich wie jeden Mittwoch in eine zu enge Hose gezwängt. Das, so beschloss sie am Ende des ersten Unterrichtsteils, würde sie ab sofort ändern.

      In der Pause herrschte am Kopierer das übliche Gedränge. Aus dem Vorhaben, ganz schnell etwas zu vervielfältigen und dann in die Cafeteria im Erdgeschoss zu gehen, wurde mal wieder nichts. Elli Geiger, Kathrin Schröder, die erst kurz vor Unterrichtsbeginn im Institut erschienen war, und Birgit Kaminski bildeten eine Schlange vor dem Gerät. Leni stellte sich hinten an.

      Birgit war also geblieben. „Ich musste doch unterrichten, der Klaus Dieter hat mich praktisch dazu gezwungen“, kommentierte sie ihre Anwesenheit, obwohl sie niemand darauf angesprochen hatte. „Na ja, so richtig gezwungen nicht, aber er hat gemeint, dass ich die Unterrichtsstunden nachholen müsste, wenn ich sie so kurzfristig absagen würde, und für heute kein Honorar bekäme. Da habe ich es mir anders überlegt.“ Der letzte Satz kam mit etwas Verzögerung. Und weil sie gerade das Wort hatte, wollte sie auch noch schnell ihre Meinung zum Geschehen loswerden. „Ich persönlich finde die Geschichte mit Beate ganz furchtbar. Und es ist ja auch noch nicht klar, wie das eigentlich passiert ist. Stellt euch mal vor, vielleicht wurde sie ermordet. Und der Mörder hat in ihrem Kurs gesessen.“

      Kathrin, die eine Buchseite auf die Glasplatte


Скачать книгу