Das Audit. Anne Buscha
läuft jetzt hier, an unserem Institut, ein Mörder oder eine Mörderin“, dieses Wort betonte Birgit besonders, „frei herum. Ich darf gar nicht daran denken. Was da alles passieren kann! Wie ihr nur so ruhig bleiben könnt!“ Sie hielt inne. „Ich werde ein Gedicht schreiben, um das alles zu verarbeiten.“ Birgit sah erst zu Kathrin, dann zu Leni, als erwartete sie von den beiden eine Bestätigung für ihr Vorhaben. Die taten ihr den Gefallen und nickten heftig.
In der dritten Etage der modernen Polizeistation Rotterdam Doelwater, die mit ihrem geschwungenen Dach einen deutlichen Kontrast zum benachbarten, einhundert Jahre alten Rathaus bildete, saß Hoofdinspecteur Jan de Rijk und schaute abwechselnd auf den kleinen Platz vor seinem Fenster und auf seine Uhr. Es war schon halb zehn. Er wartete noch immer auf eine, schon vor zwei Stunden angekündigte Mail des Niederländischen Forensischen Institutes in Den Haag. Dort war gestern Nacht die Leiche einer deutschen Frau, 39 Jahre alt und beschäftigt am Institut für deutsche Sprache und Kultur, eingeliefert worden. Genau an dem Institut, an dem er heute unter normalen Umständen seinen wöchentlichen Deutschunterricht besucht hätte. Er überlegte, ob er vielleicht nach Hause gehen sollte und warf noch einen letzten Blick auf die Fotos des Opfers, die auf seinem Schreibtisch lagen. Die Frau hatte ihn Anfang Januar nach einem Test in einen Kurs auf Niveau B2 eingeschrieben. Das wäre, so meinte die Abgebildete damals, als sie noch lebte, schon ein sehr ordentliches Niveau mit Spielraum nach oben, oder anders ausgedrückt, mit noch einigen möglichen Folgekursen. Was für ein Zufall. In seiner Dienstzeit war es bis jetzt noch nicht vorgekommen, dass er eine Person persönlich kannte, wegen deren Todes er ermittelte. Ein Foto hielt er sich dicht vor seine Augen. Was war das hier? Ein Unfall? Ein Mord? Die Antwort kam wenige Minuten später in einem ersten Bericht des Pathologen: Schädelbruch durch Außeneinwirkung mit einem noch nicht identifizierten Gegenstand. Todeszeitpunkt zwischen 22:00 und 22:30 Uhr. Jan de Rijk wusste für heute genug und fuhr seinen Rechner herunter.
Ungefähr zur gleichen Zeit wartete Leni an der Rezeption auf Kathrin, um mit ihr zusammen durch das Rotterdamer Zentrum, vorbei am Café Floor und dem Kaufhaus De Bijenkorf, nach Hause zu laufen. Ihr Appartement befand sich im Red Apple Building, einem 40-stöckigen quadratischen Hochhaus, das mit seiner einzigartigen Architektur zu den beliebtesten Fotomotiven der Stadt gehörte. Das Gebäude bestand an seiner Außenfassade nur aus Glas und rotem Eisen und erweckte, von unten betrachtet, den Eindruck, als würden die Eisenträger wie Äste in unterschiedlicher Breite an dem Glas senkrecht emporwachsen. Die Wohnung lag im 16. Stock und bot nicht nur einen fantastischen Ausblick, sie hatte auch einen fantastisch hohen Preis. Die horrenden Wohnkosten waren für Kathrin bis zu dem Tag, an dem sie von ihrem Lebensgefährten verlassen wurde, nie ein Problem. Der arbeitete als Anwalt bei Eurojust in Den Haag und war ohne Vorankündigung gemeinsam mit einer britischen Kollegin in ein nettes Häuschen in unmittelbarer Nähe seines Arbeitsplatzes gezogen. Nach diesem überraschenden Schritt änderte sich Kathrins finanzielle Situation schlagartig. Sie konnte das Geld für die Wohnung alleine nicht aufbringen und interpretierte es als Glück im Unglück, als sie beim Warten am Kopierer von Leni erfuhr, dass diese ihrem Freund in Leiden den Laufpass gegeben hatte und auf der Suche nach einer Unterkunft in Rotterdam war. Die Teilung der monatlichen Miete ermöglichte es nun beiden, finanziell einigermaßen zu überleben. Kathrin hatte es noch etwas leichter als Leni. Sie war mit einem Stundenumfang von 50 Prozent an der Hogeschool Rotterdam angestellt, was immerhin ein festes, wenn auch nicht übermäßig hohes Einkommen bedeutete.
„Na, war dein Lieblingsteilnehmer heute da?“, fragte Kathrin neugierig und sah schon aus den Augenwinkeln das Kopfschütteln. Daraufhin änderte sie das Thema.
„Das mit dem Tod von Beate ist schon seltsam. Sie lag im Wohnzimmer auf dem Boden – hat jedenfalls Hieronymus erzählt. Nach einem natürlichen Tod sieht das nicht aus, eher nach einem Unfall oder einem Verbrechen.“
„Ich tippe auf die letzte Möglichkeit.“
Sie erreichten den kleinen Hafen am Schifffahrtsmuseum. Der Anblick von Schiffen zwischen den Wohnhäusern faszinierte Leni jedes Mal. Sie blieb kurz stehen und sah aufs Wasser. Auf einem der Boote, die hier vor Anker lagen, hatten zwei junge Leute eine Auseinandersetzung, die sie an Deck lautstark austrugen. Leni hörte dem Streit eine Weile zu, ging dann weiter und holte Kathrin nach wenigen Metern wieder ein.
„Wie war eigentlich dein Verhältnis zu Beate?“, fragte sie etwas unvermittelt, vielleicht angeregt durch den mitgehörten Meinungsaustausch.
„Gut. Und deins?“
„Es ging so.“ Leni hegte leichte Zweifel an Kathrins „Gut.“ und beschloss daher, sich mit ihrer Meinung über die Verstorbene lieber zurückzuhalten. Die beiden Lehrerinnen liefen schweigend nebeneinander her und Leni erinnerte sich unwillkürlich an die letzte Hospitation von Beate in einem ihrer Kurse. Sie hatte eine richtig gute Unterrichtsstunde abgeliefert und Beate hatte ihre, wie sie selbst fand, didaktische Meisterleistung nicht einmal im Ansatz erkannt. Stattdessen hatte ihr die Beauftragte für Sprachkurse vorgeschlagen, den Unterricht mit mehr Assoziationsaufgaben aufzulockern. Im Anfängerkurs, mit Teilnehmern ohne Wortschatzkenntnisse. Darüber hatte sich Leni so geärgert, dass sie die Nachbesprechung mit ihrem pädagogischen Lieblingssatz: Wo nichts drin ist, kann auch nichts rauskommen. beendete und sich auch den kleinen Zusatz: Und das gilt nicht nur beim Fremdsprachenlernen. nicht verkneifen konnte. Diesen Wink mit dem Zaunpfahl hatte Beate Neumann wider Erwarten verstanden, was das Ende einer bis dahin mittelfreundlich-kollegialen Kommunikation einläutete. Selbst nach einem Jahr war Leni wegen der ausgebliebenen Anerkennung ihrer pädagogischen Fähigkeiten immer noch so beleidigt, dass es nach dem Tod der Kollegin für ein bisschen Trauer oder Mitleid nicht reichte.
DONNERSTAG, 3. JUNI
Am Morgen klingelte das Festnetztelefon im Wohnzimmer, ein Überbleibsel von Kathrins ehemaligem Freund, der seine Handynummer nicht mit jedem teilen wollte. Kathrin war schon auf dem Weg zur Hochschule. Leni trank gerade ihren Kaffee und schaute durch die Glasfront am gegenüberliegenden Hochhaus vorbei auf die Erasmus-Brücke. Dieser Blick erzeugte bei allen Besuchern einen Wow-Moment und kaschierte die Tatsache, dass die beiden Schlafzimmer mit jeweils zehn Quadratmetern ziemlich klein und dass sowohl die offene Küche als auch Bad und Toilette nur sehr einfach ausgestattet waren.
Am anderen Ende der Leitung war Klaus Dieter Wisch, der Leni bat, umgehend im Institut zu erscheinen. Das war ganz in ihrem Sinn, denn sie brauchte einen Zugang zum elektronischen Klassenbuch für den C2-Kurs von Beate. Dort sollte eigentlich etwas über die Hausaufgaben und die bereits behandelten Themen stehen.
Als Leni das Institut erreichte, stand Klaus Dieter vor der Eingangstür und trat von einem Bein auf das andere. So ein kurzer Ausflug an die frische Luft hatte auf ihn, zumindest früher in seinen Raucher-Zeiten, eine beruhigende Wirkung. Das klappte heute nicht. Er war noch nervöser als am Vortag, sah blass aus. Mit einem Becher Kaffee aus der Cafeteria erreichten sie schließlich sein Büro im zweiten Stock. Alles lag hier durcheinander.
„Ich brauche den Zugang zu Beates Klassenbuch“, begann Leni das Gespräch, den noch vorzubereitenden Unterricht im Hinterkopf.
„Ach ja, den Zugangscode, die Liste mit den Codes muss hier irgendwo sein.“ Etwas hilflos blätterte Klaus Dieter in den Papierstapeln auf seinem Tisch herum, ohne Erfolg.
„Wir haben aber noch ein anderes Problem. In einer Woche steht uns das Audit ins Haus, das weißt du ja, und ich bin mir nicht ganz sicher, wie weit Beate mit den Vorbereitungen gekommen ist. Da gibt es vermutlich noch einiges zu tun. Ich habe gestern noch mit der Institutsleiterin gesprochen. Meine Bitte, das Audit zu verschieben, wurde leider abgelehnt. Martina meinte, ich soll mich jetzt um die Vorbereitung kümmern.“ Dabei zeigte er mit dem Finger auf seine Brust und ließ diese Zumutung ein zweites Mal nach gestern Abend auf sich wirken. „Aber du verstehst natürlich, dass das für mich gar nicht so einfach ist. Ich stecke bis über beide Ohren in den Vorbereitungen zur Deutschlehrertagung, das ist viel Arbeit. Außerdem müssen wir noch an verschiedenen Institutionen Prüfungen abnehmen. Das wird mir alles zu viel.“
Leni wusste, dass die Tagung erst im Herbst stattfinden sollte und er selbst gar keine Prüfungen mehr abnahm, dennoch