Das Audit. Anne Buscha

Das Audit - Anne Buscha


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nach Afghanistan?“

      „Jetzt mal doch den Teufel nicht an die Wand! Wir haben gute Arbeit geleistet und können einige Erfolge vorweisen. Zum Beispiel im Bereich der Prüfungskooperation …“

      „Hör auf mit der Prüfungskooperation!“, schrie Frau Müller-Bär. „Ich kann das nicht mehr hören. Du und Erfolge, im Bett der Sprachkursbeauftragen vielleicht. Sei froh, dass die Polizei davon nichts weiß. Das hätte mir gerade noch gefehlt, dass diese dumme Geschichte publik wird.“

      „Wenn du weiter so schreist, wird das mit der Geheimhaltung schwierig“, wehrte sich der Angegriffene und Leni hörte Schritte, die sich der Tür näherten. Sie verschwand sofort im Klassenraum nebenan. Leider waren zwei Flyer beim Versuch, sie zurückzustecken, nach unten gefallen. Die Schritte stürmten an der Klassenzimmertür vorbei. Klaus Dieter fluchte hörbar: „Mir reicht’s.“

      Noch rechtzeitig bevor die Tür aufgerissen wurde, konnte Leni das Whiteboard starten und das elektronische Klassenbuch öffnen, was den Eindruck konzentrierter Unterrichtsvorbereitung erzeugen sollte. Frau Müller-Bär wedelte mit den Flyern in der Hand. „Sind die Ihnen gerade runtergefallen?“

      „Nein“, log Leni, „vielleicht sind sie durch einen Windzug aus dem Ständer gewedelt worden. Das passiert manchmal.“

      Schon fast mit dem Rücken zu Leni drehte sich die Institutsleiterin noch einmal um. „Sind Sie nicht Leni Weber?“

      „Ja.“ Sie stand auf, ging auf die Institutsleiterin zu und streckte ihr die Hand entgegen. „Ich bin sehr froh, dass ich Beate vertreten darf. Vielen Dank!“

      Frau Müller-Bär entzog sich dem Handschlag, indem sie beide Hände nach oben hielt, als stünde jemand mit einer Pistole vor ihr. „Ich bin vorsichtig geworden und muss Rücksicht auf meine Gesundheit nehmen.“

      „Natürlich. Entschuldigen Sie.“ Leni wich ein Stück zurück.

      „Wie lange arbeiten Sie schon für uns?“

      „Sechs Jahre. In den ersten Jahren habe ich noch sehr viel für die Universität Leiden gearbeitet und in Rotterdam nur einen Kurs im Semester gegeben. Seit zwei Jahren versuche ich, so viel wie möglich für das Institut zu arbeiten. Ich unterrichte Kurse auf allen Niveaus, nehme Prüfungen ab, helfe bei Tests und Einschreibungen und habe auch schon eine Fortbildung für die Kolleginnen und Kollegen geleitet.“ Das klang wie bei einer Bewerbung und Leni suchte fieberhaft nach weiteren positiven Punkten.

      „Wurden Sie in Leiden gefeuert?“ Das Gespräch wurde nicht angenehmer.

      „Nein, nein, ich habe Leiden und die Uni aus privaten Gründen verlassen.“

      „Na ja, wie auch immer. Ich bin jedenfalls erleichtert, dass es in der Sprachabteilung erst mal weitergeht und das Audit von jemandem vorbereitet und begleitet wird. Wenn Sie Fragen haben oder Ihnen sonst etwas auffällt, wenden Sie sich direkt an mich.“

      „Werde ich machen.“ Die Erleichterung, dass sie die Situation einigermaßen gemeistert hatte, war Leni anzumerken.

      „Ach noch etwas, ich würde mich freuen, wenn Sie auch Präsenz bei unseren Kulturveranstaltungen zeigen. Heute um 18 Uhr ist die Ausstellungseröffnung für die Urs Friedhelm-Videoinstallation.“ Mit dem letzten Satz schloss Frau Müller-Bär die Tür von außen. Bevor sie zum Essen aufbrach, nutzte Leni die Gelegenheit, zur Vorbereitung ihres Abendunterrichts in das geöffnete Online-Klassenbuch von Beate Neumann zu schauen. Das Klassenbuch war leer.

      Als die Institutsleiterin ihr Büro erreichte, wartete Marga Engels, ihre Assistentin, vor der Tür. „Hast du mal über das Bienenprojekt nachgedacht? Ich hatte heute bereits zweimal Marjolijn in der Leitung, die will eine Antwort.“

      „Dann muss sie eben warten.“ Sie hatte im Moment wirklich keine Zeit, sich auch noch mit dem Bienenprojekt der Freundin der Assistentin herumzuschlagen, die die Idee hatte, gegen eine monatliche Gebühr Bienenstöcke an verschiedenen Orten der Stadt aufzustellen und dies als Kunstaktion unter dem Namen KULT-NAT-UR zu deklarieren. Eine dieser Bienenboxen sollte auf dem Parkplatz hinter dem Institut eine neue Heimat finden. Von dort aus hätten die Bienen dann auf die gegenüberliegende abgezäunte Wiese oder andere blütenreiche Grünflächen an Straßenrändern und Grachten fliegen können. Warum war ausgerechnet sie immer von Dilettanten umgeben? Von Leuten, die dämliche Projekte vorschlugen oder überhaupt keine Einfälle hatten? Aber was sollte sie machen? Sie konnte doch nicht alle Mitarbeiter entlassen, wenn sie irgendwo auf der Welt ein Institut übernahm. Schön wäre es ja. Da drängte sich ihr gleich die zweite Frage auf, die sie seit einiger Zeit umtrieb. Warum hatte man ausgerechnet sie, die schon mit so vielen tollen Kampagnen und Veranstaltungen überzeugen konnte, an so ein kleines Institut versetzt? Und dann auch noch in eine so uncharmante Stadt, die von dolce vita absolut nichts verstand. Wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen, die zur gleichen Zeit eingestellt worden waren wie sie, leiteten heute große Institute, zum Beispiel in Rom oder Paris? Dort gehörte sie eigentlich hin. Eine dieser Kolleginnen, Christa Börne, war sogar zur Leiterin des Regionalinstituts Nordwesteuropa in London aufgestiegen und somit ihre direkte Vorgesetzte, da Rotterdam im Rahmen des weltweiten Institutsnetzwerks zur Region Nordwesteuropa zählte. Regionalinstitute hatten eine übergeordnete Position und dass nun ausgerechnet diese Frau in der Region den Ton angab, wurmte sie maßlos. Es ging natürlich auch noch schlimmer, da brauchte sie nur an Klaus Dieter zu denken. Wenn der das Audit gegen die Wand fährt, wird das auch auf sie zurückfallen und ihre Führungsqualitäten in ein schlechtes Licht rücken. Eine grauenhafte Vorstellung. Frau Müller-Bär hatte inzwischen an ihrem Schreibtisch Platz genommen, als das Klingeln des Telefons ihre gedanklichen Abschweifungen unterbrach. Doch sie nahm den Hörer nicht ab. Die Nummer auf dem Display erinnerte sie an die Rede für den heutigen Abend, die sie noch nicht geschrieben hatte. Stattdessen griff sie selbst zum Hörer und bestellte Marga Engels in ihr Büro.

      Die Assistentin war wieder einmal ähnlich gekleidet wie ihre Vorgesetzte, mit einem kurzen Blazer, über dem eine sehr lange Kette baumelte, und einem knielangen Rock mit aufgenähten Taschen. Das störte die Institutsleiterin erheblich, denn sie hatte sich Anfang des Jahres von einer Stylistin exklusiv beraten lassen, um nicht nur durch ihre Persönlichkeit, sondern auch optisch einen fachkundigen und durchsetzungsfähigen Eindruck zu hinterlassen. Vor allem die Frage, was die Partner aus Politik, Kunst und Kultur dachten, wenn sie als anerkannte Kulturmanagerin von einer Imitation ihrer selbst bei wichtigen Veranstaltungen begleitet wurde, beunruhigte die Leiterin. Sie zog nun ernsthaft in Erwägung, ihre Assistentin bei Terminen außer Haus nicht länger an ihrer Seite zu dulden und damit der optischen Ablenkung der Gesprächspartner Einhalt zu gebieten. Eine Minute nach dem Anruf tauchte Marga Engels mit einigen Kunstkritiken älterer Videoinstallationen von Urs Friedhelm im Büro der Kulturverantwortlichen auf, die sie in weiser Voraussicht bereits im Internet zusammengesucht und ausgedruckt hatte. Wahrscheinlich will sie wegen der blöden Bienen meine Stimmung verbessern, schlussfolgerte Frau Müller-Bär und nahm die Papiere mit einer kurzen Rückversicherung: „Ist das alles?“, an sich.

      Nach ungefähr vier Gehminuten erreichte Leni das Café Floor. Zuerst schaute sie in den langgezogenen Garten auf der Rückseite des Cafés. Fast alle Tische waren belegt, es war sehr voll und zu laut. Deshalb entschied sie sich für einen Tisch im Innenbereich am Fenster und bestellte einen Latte Macchiato und eine soep van de dag, das war heute Tomatensuppe. Der nicht vorhandene Klassenbucheintrag für ihren neu übernommenen Kurs machte sie nachdenklich. Wie konnte jemand nur so arbeiten? Warum war eigentlich ausgerechnet Beate Sprachkursbeauftragte geworden und nicht eine andere Kollegin? Hatte das etwas mit dem zu tun, was Hugo vermutet und die Institutsleiterin bestätigt hatte? Etwas wehmütig erinnerte sich Leni an den Vorgänger von Klaus Dieter, der ihr vor sechs Jahren einen Honorarvertrag als Lehrerin angeboten hatte und der ihr sowohl fachlich als auch im Umgang mit den Kollegen positiv im Gedächtnis geblieben war. Damals gab es die Stelle der Sprachkursbeauftragten an dem kleinen Rotterdamer Institut noch nicht, Klaus Dieter hatte sie zu seiner Arbeitserleichterung vor drei Jahren beantragt und genehmigt bekommen. In Sprachabteilungen größerer Institute war es schon seit längerer Zeit üblich, dass eine Ortskraft, meist jemand aus dem Lehrerkollegium, damit beauftragt wurde, sich um die anfallenden Arbeiten rund um die Sprachkurse zu kümmern.


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