Das Audit. Anne Buscha

Das Audit - Anne Buscha


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und Planungszielen umfasste, entging ihr nicht. Den Hinweis, dass genau diese Dokumentation in zweifacher Ausführung, geordnet nach Themen, in einer Mappe circa sechs Wochen vor Audit-Beginn beiden Auditierenden zuzusenden sei, konnte man ebenso wenig übersehen. Etwas ungläubig schaute Leni noch einmal auf den von Beate erstellten Ablaufplan. Da stand es schwarz auf weiß: Das Audit sollte nächste Woche Donnerstag beginnen.

      Kurz vor fünf stattete Leni Hugo noch einmal einen Besuch in seinem Büro ab. „Sag mal, Hugo, habe ich das vorhin richtig verstanden, dass die Unterlagen an die Auditoren noch nicht verschickt wurden?“

      „Ja, das hast du völlig richtig verstanden. Das müsste demnächst mal gemacht werden.“

      „Die Informationsmappen hätten schon seit fünf Wochen bei den Auditoren liegen sollen. Das habe ich gerade gelesen.“

      „Das ist korrekt. Aber ich glaube, das sind ungefähre Zeitangaben. Ich würde das nicht so eng sehen.“

      „Egal, ob ungefähr oder genau, die Deadline ist nun wirklich lange vorbei. Ich gehe heute noch zur Ausstellungseröffnung und dann gebe ich Beates Kurs. Morgen Vormittag müssen wir das alles fertig machen.“

      „Du gehst zur Ausstellungseröffnung? Na dann, viel Spaß!“ Hugo drehte sich um und schaltete alle Geräte aus.

      Lenis anfängliche Euphorie wich langsam dem Gefühl, mit der Übernahme von Beates Tätigkeit eventuell ein Eigentor geschossen zu haben.

      Im Ausstellungsraum hinter der Cafeteria im Erdgeschoss hatten inzwischen neun Leute, verteilt auf sechs Stuhlreihen, Platz genommen. Leni gesellte sich zu Susanne, der Verwaltungsleiterin, in Reihe vier. Vor ihr saßen zwei Mitarbeiterinnen aus der Kulturabteilung, eine davon war Marga Engels, und Isabell aus der Bibliothek. In Reihe eins zog Birgit Kaminski in einer selbstgehäkelten bunten Jacke die Blicke des Künstlers auf sich, der ihr gegenüber auf einer kleinen Bühne neben dem Rednerpult auf einem Stuhl hockte und sich dort offensichtlich nicht ganz wohl fühlte, denn er zappelte unruhig hin und her. Ebenfalls vorn, in den Reihen eins und zwei, hatten es sich drei Kunstinteressierte gemütlich gemacht, von denen einer seine Beine fast bis zur Bühne ausstreckte. Ganz hinten, in Reihe sechs, tippte Michael Bär, der Mann von Frau Müller-Bär, etwas in sein Handy. An der rechten Seite des Raums stand ein langer schmaler Tisch mit Getränken wie Wasser, Orangensaft und Wein sowie einigen Knabbereien und kleinen Tellern mit belegten Weißbrotscheiben. Dieser wurde von den Gästen immer wieder verstohlen begutachtet, auch von Leni. Plötzlich wurde es dunkel und auf einer aufgespannten Leinwand hinter dem Rednerpult startete ein Film, bei dem von einem Strand aus das Meer gefilmt worden war. Man sah nur den Strand, auf dem etwas Plastikmüll lag, und das Meer. Nach vielen überlangen Minuten schwenkte die Kamera langsam nach rechts, wieder nur Strand, Plastikmüll und Meer. Jetzt konnte man ein paar Möwen sehen und hören.

      Martina Müller-Bär trat an das Rednerpult und begann mit ihrer Rede, die sie Wort für Wort abzulesen versuchte, was in der Dunkelheit nicht einfach war.

      „Die neueste Arbeit des Videokünstlers Urs Friedheim …“, sie korrigierte sich, „Urs Friedhelm mit dem Titel Meer – Möwe – Mensch – Müll illustriert tiefgreifend und bewegend das Verhältnis zwischen der Natur und dem infernalen und zerstörerischen Treiben der Menschen. Die bildnerisch ausdrucksvollen Schleifen um das Thema verknüpfen in einer spielerischen Reaktion …“, sie musste sich wieder korrigieren, „Reflexion den Aspekt der menschengemachten Umweltzerstörung mit dem Kampf der Tiere und der Natur ums Überleben. Die Kritik an der sich nur am Konsum orientierenden Gesellschaft verfehlt mit einer klaren Bildsprache ihre Wirkung nicht und zieht den Betrachter sofort in ihren Bann …“

      Dieser beschriebene Effekt trat scheinbar nicht bei allen ein, denn der freischaffende Historiker Michael Bär tippte noch immer auf seinem Smartphone herum und auch Leni war nicht ganz bei der Sache. Sie dachte vielmehr darüber nach, wie lange der offizielle Teil dauern und ob sie vor Unterrichtsbeginn um 18:30 Uhr noch an das Buffet kommen würde. Da summte ihr auf lautlos gestelltes Handy. Das Geräusch war immerhin noch so laut, dass sich die dritte Reihe geschlossen umdrehte. Mit ihrer Tasche und dem summenden Telefon hastete sie aus dem Raum. Als sie die grüne Taste gedrückt und das Handy am Ohr hatte, war der Anrufer weg.

      Anstatt eine weitere Störung der Ansprache zu Meer – Möwe – Mensch – Müll zu verursachen, entschied sich Leni, in ihren Klassenraum zu gehen. Nach einer Weile tauchten zwei Teilnehmerinnen auf. Verwundert schaute Leni noch einmal auf die Kursliste, auf der vierzehn Namen aufgeführt waren. Um nicht später alles wiederholen zu müssen, stellte sie zunächst einige Fragen zur Person. Eine Teilnehmerin hieß Frauke, war Rentnerin und interessierte sich für Literatur. Die andere, Marijke, hatte vor, ab September an der Ludwig-Maximilians-Universität in München Kunstpädagogik zu studieren und brauchte für die Studienzulassung das Große Deutsche Sprachdiplom. Schließlich erschienen weitere drei Teilnehmer, die sich ebenfalls kurz vorstellten. Michiel war als Anwalt tätig und vertrat ab und zu deutschsprachige Mandanten. Leni schätze ihn auf Anfang 40, er hatte eine rundliche Figur und eine etwas zu große Nase. Der zweite, Jos, arbeitete für die Stadt Rotterdam im Bereich Städteplanung. Nummer drei hieß Nout, war bei einer Bank beschäftigt und beabsichtigte, demnächst in die Schweiz überzusiedeln. Der Banker war ziemlich attraktiv und sehr gut gekleidet. Es dauerte eine Weile, bis Leni die Teilnehmer den Namen auf ihrer Liste zugeordnet hatte, auf der nicht die Rufnamen, sondern entweder nur Buchstaben mit Punkt oder alle im Taufregister eingetragenen Vornamen standen. Mit diesen fünf Leuten begann die Lehrerin den Unterricht. „Ich bin Leni und ich werde ab heute Ihren Kurs leiten. Ich weiß nicht, ob es sich schon herumgesprochen hat: Beate Neumann ist am Dienstag auf tragische Weise ums Leben gekommen.“ Jetzt sah sie in betroffene Gesichter.

      „Was ist passiert?“, fragte Marijke.

      „Das weiß ich nicht genau. Ich weiß nur, dass die Polizei Untersuchungen aufgenommen hat. Wenn Sie sich nicht gut fühlen, dann können wir den Kurs jetzt abbrechen und an einem anderen Tag nachholen.“

      „Nein, nein, ich würde gerne weitermachen“, war die Meinung von Michiel, die von Frauke mit „Ich auch!“ bestätigt wurde.

      „Gut. Ich habe einen Artikel für Sie kopiert, in dem es um Umweltprobleme in Großstädten geht. Ich denke, den können wir als Grundlage für eine Diskussion nehmen. Aber zuerst werden wir mal Ihren Wortschatz aktivieren.“ Nachdem Leni das Wort Umwelt auf das elektronische Whiteboard geschrieben hatte, teilte sie die fünf Leutchen in zwei Gruppen ein und bat sie, Wörter zum genannten Thema zu sammeln.

      Gegen 19:30 Uhr betraten Hoofdinspecteur Jan de Rijk und Hoofdagent Pim Jansen das Gebäude. Hieronymus schaute mit aufgesetzten Kopfhörern in seinen Laptop und bemerkte weder die Polizisten noch das Klingeln des Telefons. Jan blieb nichts anderes übrig, als seine Schulter zu berühren, um sich bemerkbar zu machen.

      „Oh, sorry“, jetzt nahm er die Kopfhörer ab.

      „In welchem Raum ist der Kurs, den Beate Neumann gegeben hat?“

      Die Suchaktion in einem Papierstapel, die deutlich länger dauerte als das Telefonklingeln, konnte Hieronymus erfolgreich beenden.

      „Klassenraum B, erste Etage.“

      Kurze Zeit später klopfte es an Lenis Klassenzimmertür und die späten Gäste traten ein. „Ich wollte dich telefonisch vorwarnen, aber ich habe dich nicht erreicht“, sagte Jan.

      „Ich war gerade bei einer Ausstellungseröffnung unserer Kulturabteilung. Ich vermute, ihr habt einige Fragen an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer.“ Leni bemühte sich um eine vorbildliche gendergerechte Wortwahl und war ein bisschen stolz, dass sie den Lernenden mit der kurzen Konversation ein persönliches Verhältnis zu den ermittelnden Behörden demonstrieren konnte.

      „Wir machen jetzt eine kurze Pause, damit sich die Polizisten mit Ihnen unterhalten können. Wenn die Befragung beendet ist und Sie unten einen Kaffee getrunken haben, machen wir weiter.“

      Inzwischen war im Ausstellungsraum der offizielle Teil in den inoffiziellen übergegangen und der Künstler, Frau Müller-Bär und alle Besucher außer Birgit, die unterrichten musste, befanden sich in der Nähe


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