Das Audit. Anne Buscha

Das Audit - Anne Buscha


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fragst. Ja, du kannst mir helfen. Ich werde noch mal mit Martina Müller-Bär sprechen und fragen, ob du vertretungsweise auch die organisatorischen Aufgaben für den Sprachkursbetrieb von Beate übernehmen kannst, bis wir die Stelle neu besetzen.“

      Lenis Reaktion kam prompt, denn sie erkannte die Chance, die sich ihr bot. „Das mache ich sehr gerne. Das ist doch selbstverständlich.“

      „Da fällt mir ein Stein vom Herzen. Du hast ja in den Test- und Einschreibungswochen für die Kurse schon mit dem neuen Kursteilnehmerverarbeitungsprogramm gearbeitet, deshalb bin ich mir sicher, dass du dich da sehr schnell reinfuchst. Ich werde bei der Institutsleiterin vorbeigehen und mit Rob sprechen, der soll dir den Zugang zu Beates Computer einrichten. Vielleicht kann der dir dann gleich mit dem Online-Klassenbuch helfen.“

      Während Leni versuchte, sich die Freude über das unverhoffte Angebot nicht anmerken zu lassen, das für sie noch mehr Arbeitsstunden und demzufolge eine deutliche Verbesserung ihrer finanziellen Lage bedeutete, erkundigte sie sich nach Neuigkeiten zur Todesursache.

      „Die Polizei hat sich angekündigt. Die kommen um 10:30 Uhr zu einem Gespräch mit Martina und mir.“ Klaus Dieter sah auf seine Uhr. „Das habe ich auch noch um die Ohren! Es wäre mir am liebsten, du würdest sofort loslegen, damit wir keine Zeit verlieren. Du kannst in Beates Büro arbeiten, das ist ja jetzt leer.“ Als er in die Innentasche seines Jacketts griff, um mit einer alkoholhaltigen Flüssigkeit aus einem silbernen Flachmann seine Nerven zu beruhigen, war Leni schon auf dem Weg zu ihrem neuen Arbeitsplatz.

      Das Büro der Sprachkursbeauftragten war ziemlich klein und mit einem Schreibtisch, einem Rollschrank, einem Stuhl und halbleeren Regalen an der Wand ausreichend möbliert. Der Tisch stand vor dem Fenster und bot einen beruhigenden Blick auf eine Baumkrone. An der Wand hingen zwei alte Werbeplakate für die Sprachkurse, eins mit dem fett gedruckten Wort Schnapsidee, eins mit Fingerspitzengefühl. Darunter folgte in kleineren Buchstaben die Frage: Deutsch lernen? Leni zog vorsichtig die Schubladen auf, in denen aber nur Büromaterial zu finden war. Dann sah sie sich um. In dem Raum gab es nichts Privates, kein Foto, keine Blumentöpfe, keine Nippesfiguren oder Ähnliches. Als Leni ihre Tasche auspackte und ihre Stifte und das A5-Heft, das sie immer mit sich führte, auf dem Schreibtisch platzierte, tauchte Rob auf. Mit seinem durchtrainierten Körper, der Glatze und dem goldenen Ohrring im rechten Ohr beschrieb ihn Kathrin einmal sehr treffend als Mischung aus Bruce Willis und Meister Proper. Und das Einsatzgebiet, das ihm viele Kollegen und Besucher aufgrund seiner muskelbepackten Arme instinktiv zuordneten, lag eindeutig auf dem Gebiet von Schutz und Sicherheit. Doch seit Lenis Arbeitsbeginn vor sechs Jahren gab es keinerlei Vorfälle, die den Einsatz eines Sicherheitsbeauftragten erfordert hätten. Kein deutschsprachiges Buch verließ auf illegale Weise die Bibliothek und die ausgestellten Kunstwerke blieben solange im Ausstellungsraum, bis sie von den Künstlern selbst wieder entfernt wurden. Auch die Bedrohungslage des Instituts an sich war insgesamt als gering einzuschätzen, obwohl es nach Berichten von Mitarbeitern vor etlichen Jahren tatsächlich einmal zu einem Zwischenfall gekommen war. Damals gab es eine Gruppe von kurdischen Kämpfern, die nach einem ihrer Meinung nach ungerechten Urteil eines Hamburger Gerichts, bei dem einer der ihren zu einer längeren Freiheitsstrafe verurteilt worden war, beschlossen hatten, das Institut für deutsche Sprache und Kultur in Rotterdam zu überfallen. Warum die sich gerade Rotterdam ausgesucht hatten, wusste niemand so genau. Vielleicht wohnten einige von ihnen in der Hafenstadt. Ihr Bestreben bestand nun darin, die Verurteilten und ein paar andere Landsleute freizupressen. Die Aktion begann in der Unterrichtspause, kurz nach 20 Uhr. Eine kleine ältere Dame hatte an der verschlossenen Eingangstür geklingelt und den damaligen Rezeptionisten geschockt, als sie beim Öffnen der Tür gemeinsam mit von der linken und rechten Seite hervortretenden, mit Messern bewaffneten jungen Männern und Frauen in das Gebäude stürmte. Die Kursteilnehmer und Lehrerkollegen wurden als Geiseln genommen, Polizei und Presse versammelten sich vorm Institut auf dem Westersingel und in den niederländischen Nachrichten rutschte die Neuigkeit der Geiselnahme immer weiter nach oben. So erfuhr auch der Mann von Elli Geiger, dass seine Frau nicht pünktlich nach Hause kommen würde. Ellis Erzählung zufolge seien alle Beteiligten ruhig geblieben. Die Kursteilnehmer hätten sich erst beschwert, als gegen 21 Uhr die offizielle Unterrichtszeit zu Ende und somit die Freizeitaktivität Deutsch lernen für diese Woche abgearbeitet war. Eine Stunde später konnten die Lehrerinnen mit gutem Zureden gerade noch eine Prügelei zwischen einigen männlichen Teilnehmern und den Geiselnehmern verhindern. Um 22:30 Uhr hatten sich Polizei und Institutsbesetzer darauf geeinigt, das Ganze friedlich zu beenden und Letztere ließen sich ohne Gegenwehr vor laufenden Kameras festnehmen. Der Anführer gab dem Fernsehsender RTL4 noch kurz ein Interview, bevor das Polizeiauto mit zwei Polizeibeamten und dem Festgenommenen davonraste. Das war bisher die einzige Situation, in der ein Sicherheitsmann oder eine Sicherheitsfrau nützlich gewesen wäre und die war lange her. Zur Verwunderung aller war das Interesse am Institut und den Deutschkursen in der Nachfolgezeit dieses Ereignisses deutlich angestiegen, sodass sich selbst Jahre später Kollegen bei sinkenden Kursteilnehmerzahlen den makabren Scherz erlaubten, sich mal als Geiselnehmer zur Verfügung zu stellen und auf diese Weise für mediale Aufmerksamkeit zu sorgen.

      Rob hatte jedenfalls mit Personenschutz nichts zu tun und ging nun seiner Tätigkeit als IT-Experte nach. Er startete den Computer, zog ein Backup der Dateien auf eine externe Festplatte und gab Leni den Code für Beates Online-Klassenbuch. Außerdem erhielt sie ein neues Passwort und hatte damit uneingeschränkten Zugriff auf Beates Computer.

      Leni atmete tief durch, das ging doch alles sehr schnell. Jetzt fiel ihr ein, dass sie weder nach der Bezahlung, noch nach den Arbeitszeiten oder einem Vertrag gefragt hatte. Sie nahm sich vor, das nachzuholen. Mit einem winzigen Lächeln im Gesicht schaute sie zunächst in den Mail-Account: fünfundsiebzig nicht geöffnete Mails. Sie begann oben und öffnete die erste Mail. Eine Bitte um Informationen zu den Sprachkursen. Als sie bei Mail fünfzehn mit Fragen zu den Sprachkursen angelangt war, hörte sie von hinten: „Leni, was machst du denn hier?“ Hugo de Jonge hatte das Zimmer betreten, ohne dass sie es bemerkt hatte, da sie mit dem Rücken zur Tür saß. Hugo arbeitete seit fünfzehn Jahren als Assistent in der Sprachabteilung. Er kannte alle Kollegen, viele Kursteilnehmer und alle Verarbeitungsprogramme für die Sprachabteilung, die seit seinem Arbeitsantritt entwickelt wurden – und das waren nicht wenige.

      „Hallo Hugo, ich wollte auch gerade zu dir kommen. Klaus Dieter hat mich gebeten, die Arbeit von Beate erst mal aushilfsweise zu übernehmen und bei der Durchführung des Audits zu helfen. Ich bin gerade dabei, mich mit dem Computer anzufreunden.“

      „Da hat der Klaus Dieter ja mal was Gutes gemacht. Soll ich dich ein bisschen einweisen oder willst du gleich loslegen?“

      „Na ja“, stammelte Leni, „das kam alles etwas unvorbereitet und ich muss mich noch auf den C2-Kurs heute Abend vorbereiten. Ich schlage vor, dass ich mir zunächst einen Überblick über die ganzen Dokumente verschaffe und wir vielleicht später reden.“

      „Okay, du weißt ja, wo du mich findest.“ Er verschwand wieder aus ihrem Blickfeld.

      Vielleicht hätte sie sich zuerst bei Hugo melden sollen. Mit einem Anflug von Selbstkritik wendete sich Leni wieder dem Computer zu und klickte sich weiter durch die Mails. Zwischen den ungeöffneten gab es einige bereits geöffnete Mails. Bei einer davon, einer Mail vom Regionalinstitut in London, blieb sie hängen.

      Liebe Beate, nach Rücksprache mit Klaus Dieter Wisch und Martina Müller-Bär kann ich deiner Bitte, dich bei deiner Bewerbung in München zu unterstützen, leider nicht nachkommen. Ich empfehle dir daher, noch ein Jahr zu warten und es dann erneut zu versuchen. Beste Grüße, Charlotte Clemens Beate hatte also die Absicht, sich bei der Personalabteilung der Zentralverwaltung in München um eine Stelle als Fach- und Führungskraft zu bewerben. Im Erfolgsfall hätte sie dann einen leitenden Posten an einem der über einhundert Institute irgendwo auf der Welt übernommen. Interessant, aber bei Beates Ehrgeiz nicht verwunderlich, fand Leni. In Rotterdam gab es von diesen Führungspositionen, die von München aus, also von der Zentrale, besetzt wurden, nur zwei: die Institutsleitung, die gleichzeitig die Kulturarbeit betreute und die Leitung der Sprachabteilung. Alle anderen Mitarbeiter galten als sogenannte Ortskräfte, auch wenn Wörter wie Beauftragte oder Beauftragter, Leiterin oder Leiter in ihren Funktionsbeschreibungen standen, und hatten


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