Verraten und verkauft. Ralph Kretschmann

Verraten und verkauft - Ralph Kretschmann


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auf den er als Nächstes seinen Fuß setzen würde.

      »Du hast nie darüber nachgedacht, was du anderen Menschen antust.« Das war keine Frage, das war eine Aussage. Roberta hätte ohnehin nicht antworten können. Sie war gezwungen, ihrem Peiniger zuzuhören, ob sie wollte oder nicht. Es bereitete ihr schon fast körperliche Schmerzen, ihm nicht den Mund verbieten zu können. Was hätte sie dafür gegeben, diesen Anklagen zu entkommen, was erst für die Möglichkeit, ihm Leid zuzufügen! Wenn sie gekonnt hätte, wäre sie mit einem Baseballschläger auf ihn losgegangen. Wut und Hass.

      Dieser miese Dreckskerl, Hurensohn, Mistbock …! Ihr fiel nichts ein, was ihrem Hass Ausdruck verliehen hätte. Es gab kein passendes Adjektiv für dieses niederträchtige Stück Mensch, das es wagte, ihr Gewalt anzutun, sie zu erniedrigen.

      »Was hatte dein erster Mann Schlimmes getan, dass er den Tod verdient hatte? Was konnte die arme Angestellte dafür? Hank? Die drei in dem Oldsmobile? Du warst ihr Richter und ihr Henker, aber mit welchem Recht? Mit dem Recht des Stärkeren? Mit dem Recht dessen, der hinterhältiger und unmenschlicher ist? Jetzt …«

      Er machte eine kleine Pause, ohne in seinem beständigen Schreiten innezuhalten oder sie anzublicken. Dann fuhr er fort, indem er das letzte Wort noch einmal wiederholte:

      »Jetzt bin ich der Stärkere. Dir ist nichts geblieben, gar nichts. Denke nicht, du hättest eine Chance zu entkommen – selbst wenn dir das körperlich gelingen sollte, selbst wenn du mich ausschalten könntest, bevor ich fertig bin, selbst dann habe ich dich in der Gewalt.«

      Die Schritte verstummten. Er war hinter ihr stehengeblieben. Minutenlang geschah nichts. Robertas Nerven summten vor Anspannung. Oder waren das die ersten Anzeichen, dass ihre Arme abzusterben begannen?

      »Ich habe Beweise gesammelt. Für jedes deiner Verbrechen gibt es einen Beleg oder wenigstens einen Hinweis. Diese Beweise wird die Polizei bekommen.«

      Roberta bäumte sich in ihren Fesseln auf. Sie rüttelte an ihren Ketten und warf sich herum. Ein unverständliches Geräusch quoll unter dem Knebel hervor, wie das erstickte Brüllen eines verwundeten Tieres. Das konnte er doch nicht tun! Nein? Warum sollte er nicht? Sie hätte es vielleicht nicht anders gemacht. Es war nur konsequent, wenn man bedachte, was er mit dieser Entführung, mit dieser Strafaktion bezweckte.

      Roberta wurde schlagartig bewusst, dass sie geliefert war. So oder so, sie konnte sich von ihrem Leben verabschieden. Wenn die Polizei die Beweise für ihre Verbrechen zugespielt bekam, würde der Staat dafür sorgen, dass sie vom Leben zum Tode befördert würde, wenn ihr Entführer das nicht erledigte.

      »Du solltest besser hoffen, dass die Polizei uns nicht findet«, sagte der Mann hinter ihr. »Du hast in vier verschiedenen Staaten gemordet. Dafür werden sie dich auf den Stuhl setzen. Das ist kein angenehmer Tod. Du wirst innerlich gekocht, bevor die Spannung, der Stromfluss dich tötet. Ich habe Männer gesehen, die harte Kerle waren und sich in die Hosen gepisst haben, als es hieß, sich auf Old Sparky zu setzen. Und du bist nicht halb so tough, wie diese Jungs es waren, glaube mir.« Die teilnahmslose Stimme machte das Gesagte nur noch schlimmer in Robertas Ohren.

      »Aber früher oder später werden die Cops uns aufspüren, ich gebe mich da keinen Illusionen hin. Die verstehen ihr Handwerk. Man sollte die Polizei nie unterschätzen. Sie mögen nicht viel Fantasie haben, aber sie sind gründlich, und wenn es einen Hinweis gibt, wo sie uns suchen müssen, dann werden sie ihn finden.«

      Roberta warf sich hin und her, in den engen Grenzen, die ihr die eisernen Bänder gestatteten. Kraftvergeudung. Ihre Wut war unermesslich. Hass, Hass, Hass! Purer, blanker Hass! Mordlust schimmerte in ihren Augen. Sie knurrte unkontrolliert.

      Ketten rasselten hinter ihr, ein Zahnrad drehte sich tackernd, dann fuhr ein scharfer Schmerz durch ihre Arme bis in die Brustmuskeln, als sie hochgezogen wurde. Sie hatte frei gehangen, jetzt spannte sich die Kette, und die Stange, die ihre Beine hielt, war offenbar mit dem Boden verbunden. Sie konnte sich nicht mehr bewegen. Der Zug an Handgelenken und Füßen war kaum zu ertragen. Ihre Wirbel knackten im Rücken, als sie gestreckt wurde.

      »Du hast keinen Grund, dich so aufzuführen!«, sagte die Stimme des Entführers hinter ihr. »Was willst du? Du bist – im Gegensatz zu deinen Opfern – noch am Leben.«

      Hatte er das Wort »noch« eben nicht seltsam betont? Roberta spürte ihr Herz bis in den Hals hoch schlagen. Sie hatte Angst. Die Wut und der Hass waren fruchtlos, hatten ihre Lage nur noch verschlimmert. Sie musste sich zusammenreißen! Wenn sie sich gehen ließ, die Kontrolle über sich verlor, dann war sie wahrhaft verloren. Sie musste sich zusammennehmen und ruhig bleiben, sonst würde ihr Peiniger sich die nächste Steigerung ausdenken oder sie gleich töten. Roberta wollte nicht sterben. Sie klammerte sich an jeden Fetzen Leben, genau wie es jeder andere Mensch an ihrer Stelle tun würde.

      Sie gab ihren Widerstand auf. Schlaff hing sie an ihrer Kette. Die kurze Kette, die die Stange an Robertas Beinen mit einem Ring am Boden verband, war straff gespannt. Die Kette an ihren Händen hatte sie nur ein paar Zentimeter höher gezogen, aber das hatte gereicht. Ihre Arme waren so stramm nach oben gezogen, dass ihre Brüste ein ganzes Stück höher saßen. Es sah unnatürlich aus.

      Der Mann legte einen Stift an der Vorrichtung um, die die Kette hielt. Es ruckte, und der Zug an Robertas Fesseln lockerte sich um ein Kettenglied. Noch zweimal ließ er ein Kettenglied durchrutschen. So war der Zug an Armen und Beinen für seine Gefangene nicht mehr so heftig wie zuvor, aber es war immer noch mehr, als sie zu Anfang gespürt hatte.

      Roberta seufzte erleichtert. Die Entlastung kam keine Sekunde zu früh. Sie hatte geglaubt, es nicht mehr aushalten zu können. Wo sollte das noch enden? Er würde ihr am Ende die Arme und Beine ausgerissen haben, bevor er sie umbrachte!

      Wie stark kann man einen menschlichen Körper strecken? Die Folterknechte im Mittelalter hatten das sicher ganz genau gewusst, und Roberta fragte sich, ob ihr persönlicher Folterknecht auch über solches Wissen verfügte.

      Der Mann wusste genau, was er tat. Er hatte das schon zuvor getan, damals allerdings unter dem Befehl seines Kommandanten. Es war so einfach, die Verantwortung nicht zu übernehmen – ganz besonders beim Militär. Ein paar Jahre später hatte er am eigenen Leib auch die andere Seite kennengelernt. Der Feind war nicht weniger zimperlich gewesen, als er selbst mit seinem Opfer umgegangen war. Ein Mensch kann Erstaunliches ertragen. Wenn der »Befragende« den »Befragten« auch noch sachkundig behandelt und seine Grenzen erkennt, dann kann ein Mensch Monate so überleben. Er selbst war dafür der Beweis. Es hatte sieben Monate gedauert, bis er endlich hatte fliehen können – sieben Monate, in denen er vorwiegend an einer Kette von einer Decke herabgehangen hatte.

      Er hatte sich dabei eine neue Schicht Narben zugelegt, denn die Soldaten spielten gern mit Feuer und ihren Messern. Sie hatten darin viel Übung …

      Der Mann streckte seinen vernarbten Arm aus und legte die narbige Hand flach auf das Gesäß seiner Gefangenen. Mit sanftem Druck drehte er sie zu sich herum. Roberta zitterte augenblicklich, als sie seine Hand auf ihrem Hintern fühlte. Jetzt kam es! Jetzt würde sie zerstückelt – oder wenigstens brutal vergewaltigt!

      Zum ersten Mal sah er ihr in die Augen. Er hielt ihre Hüften mit beiden Händen, sonst hätte sie sich unter dem Druck der verdrillten Kettenglieder zurückgedreht.

      »Zwing mich nicht, das noch einmal zu tun.« Seine Stimme befahl nicht. Er bat sie darum. Roberta registrierte es verwundert. Sie hatte angenommen, dass er das Ganze genoss – so, wie sie es genossen hätte.

      Er ließ sie los, und ihr Körper federte an seiner Fessel zurück in die vorige Position. Roberta starrte wieder auf die Wand. Vertan! Sie hatte eine Chance vertan, einen Blick in den anderen Teil ihres Gefängnisses werfen zu können. So unerwartet war die Berührung durch seine Hände gekommen, dass sie nur in sein narbiges Gesicht gestarrt hatte; von dem Raum hinter ihm hatte sie nichts gesehen.

      Was hätte es ihr auch genützt? Was hätte sie denn getan, wenn sie gewusst hätte, was noch in diesem Keller war außer ihr, dem Entführer und diesen vermaledeiten Ketten? Sie konnte hören, wie der Mann wieder einmal zu dem Ofen ging und Brennstoff nachlegte. Die Hitze in dem Raum war kaum noch erträglich. Gehörte das


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