Big Ideas. Das Film-Buch. John Farndon
erwidert sie, »ich kann jetzt sehen.«
Dieser rührende Wortwechsel gehört zu den berühmtesten Dialogen der Filmgeschichte – obwohl aus einem Stummfilm – und ist in vielerlei Hinsicht emblematisch für den ganzen Film. Das Mädchen sieht den Vagabunden zum ersten Mal und zugleich sieht es die Wahrheit, so wie auch der Zuschauer. In der lauten, grellen modernen Stadt sind die kleinen Leute, die Unterdrückten, vergessen und an den Rand geschoben. Nur in der Reinheit der Stille, Einfachheit und Blindheit können die Menschen ihre Sinne nutzen und klar sehen.
Hoffnung von morgen
Der Film hat eine konservative und sentimentale – manche finden auch kitschige – Botschaft, aber zweifellos traf er einen Nerv, als er nur zwei Jahre nach dem Börsenkrach von 1929 herauskam. Millionen Menschen in den USA durchlebten schwere Zeiten, die Armen, ja das ganze Land begann, die Große Depression zu spüren; Reiche wie Arme flohen in den Selbstmord, je tiefer die Krise wurde. Auch wenn der Film kein Heilmittel lieferte, so schenkte er doch Hoffnung. Nachdem der Vagabund den Millionär vor dem Selbstmord im Fluss bewahrt hat, drängt er ihn, die Hoffnung zu bewahren. »Morgen werden die Vögel wieder singen«, sagt er. Wie düster die Dinge heute auch aussehen mögen, man muss sich den Glauben daran bewahren, dass das Morgen erneut Freude schenkt – das scheint der Kern der Botschaft des Films zu sein.
Happy End?
Als das Blumenmädchen den Vagabunden schließlich als den erkennt, der er wirklich ist, hält Regisseur Chaplin die beiden auf Distanz. Wir wissen nicht, ob das Blumenmädchen ihn annimmt oder abweist, weil er so anders ist als der Mann ihrer Vorstellung. Es gibt kein klares Happy End.
Während das gewinnende Aussehen des Vagabunden für Pathos sorgt, wirkt es gleichzeitig komisch und erleichtert dem Publikum den Schmerz der möglichen Zurückweisung. Doch als das Blumenmädchen ihm nachblickt und die Zuschauer ihrem Blick ansehen, wie es in ihr arbeitet und etwas Hoffnung aufflackert, genügt das. Worin diese Hoffnung besteht, bleibt offen – sei es, dass sie ihr Glück mit diesem elenden Mann findet, sei es, dass sie beide ihrer Wege gehen, klüger, aber zufrieden. Wichtig ist allein, dass es Hoffnung gibt, von dem Gedanken inspiriert, dass die Vögel morgen singen, komme, was wolle.
»Ich bin geheilt. Du bist mein Freund fürs Leben.«
Der Millionär / Lichter der Großstadt
In der Boxszene, in der sich der Vagabund die meiste Zeit hinter dem Schiedsrichter versteckt oder seinem Gegner ausweicht, um den Kampf zu vermeiden, stellt Chaplin sein ganzes komödiantisches Können unter Beweis.
Charlie Chaplin Regisseur
Charlie Chaplin, Schauspieler und Regisseur, war der größte Star der Stummfilmzeit. 1889 in London geboren, war seine Kindheit von großer Armut geprägt. Sein trunksüchtiger Vater verließ seine Mutter, eine Sängerin, die später in eine Anstalt kam. Diese frühe Erfahrung inspirierte Chaplin zur Figur des Vagabunden. Als Teenager kam er zum Theater und ein Impresario brachte ihn in die USA. Mit 26 war Chaplin ein Star mit einer eigenen Filmproduktionsfirma. Auf zahlreiche Stummfilme folgte die Hitler-Satire Der große Diktator. Er starb 1977.
Wichtige Filme
1921 Der Vagabund und das Kind
1925 Goldrausch
1931 Lichter der Großstadt
1936 Moderne Zeiten
1940 Der große Diktator
Ebenfalls sehenswert: Goldrausch (1925)
GOLDENE ZEITEN IN SCHWARZ-WEISS
1931–1949
1931
Anders als in den eher theatralischen Tonfilmen erzeugt Fritz Lang in seinem ersten Tonfilm M mit einer komplexen Tonspur Spannung.
1933
In Deutschland werden die Filmstudios dem nationalsozialistischen Propagandachef Joseph Goebbels unterstellt. Große Regisseure und Stars fliehen nach Hollywood.
1935
Die 39 Stufen ist der erste einer Reihe britischer Thriller von Alfred Hitchcock, die die Angst vor dem Aufstieg feindlicher Mächte in Europa ausdrücken.
1939
MGMs Technicolor-Epos Vom Winde verweht wird ein internationaler Erfolg und einer der profitabelsten Filme aller Zeiten.
1931
Bela Lugosi als Dracula und Boris Karloff als Frankenstein werden Horrorfilm-Legenden. Während der Depression führen Filmtheater »Doppelbillets« ein – zwei Filme für den Preis von einem.
1934
Der 1930 durch die Filmproduzenten und den Filmvertrieb als moralische Richtlinie eingeführte Hays Code wird nun streng umgesetzt.
1937
Schneewittchen und die sieben Zwerge, Walt Disneys erster abendfüllender Zeichentrickfilm, wird sofort ein Klassiker.
1939
In Frankreich fällt Jean Renoirs Die Spielregel bei der Kritik durch, wird aber später als brillante Gesellschaftssatire erkannt.
1941
Citizen Kane, Orson Welles’ erster Film, ist vom Zeitungsmogul William Randolph Hearst inspiriert, der die Erwähnung des Films in allen seinen Zeitungen verbietet.
1942
Ernst Lubitsch führt nach seiner Flucht aus Deutschland bei Sein oder Nichtsein Regie, ein Film, der die Nationalsozialisten verspottet, bei der Kritik aber durchfällt.
1944
Kinder des Olymp, ein reich ausgestattetes Historien drama des Regisseurs Marcel Carné, entsteht im von den Deutschen besetzten Frankreich.
1947
Zehn des Kommunismus vedächtigte Hollywoodregisseure werden vor das Komitee für unamerikanische Umtriebe zitiert, von den Studios auf die schwarze Liste gesetzt und später ins Gefängnis geworfen.
1941
Humphrey Bogart spielt die Hauptrolle in Die Spur des Falken, dem archetypischen Film noir, und (im Jahr darauf) in Casablanca.