Gesunde Lehrkräfte in gesunden Schulen. Silvio Herzog
Perspektiven (S. 93–114). Aarau: Sauerländer.
WHO, World Health Organization (1946). Verfassung der Weltgesundheitsorganisation. New York: WHO.
WHO, World Health Organization (1986). Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung. Ottawa: WHO.
2 Gesundheit – Begriffe und Modelle
Neulich an einer Ausbildungsstätte für Lehrkräfte:
Julia ist im letzten Semester ihrer Ausbildung zur Lehrkraft und weiß seit ein paar Wochen, dass sie eine fünfte Klasse in ihrer Wohngemeinde übernehmen kann. Die Freude über die Stelle war jedoch von kurzer Dauer. In einem Gespräch zwischen zwei Nachbarinnen hat sie gehört, dass diese Klasse die »schwierigste« des ganzen Schulhauses sei und dass die vorherige Lehrkraft ein Burnout erlitten habe. Sie erzählt ihrer Studienkollegin davon: »Die Klasse war so belastend, dass meine Vorgängerin offenbar krank wurde. Wie soll ich das bloß angehen, damit ich selbst gesund bleiben kann? Ich muss schon jetzt die ganze Zeit daran denken und mache mir Sorgen.« Die Kollegin beruhigt sie: »Lass das doch in Ruhe auf dich zukommen. Du machst dir nur unnötig Stress. Vielleicht ist diese Klasse für dich ja nicht gleich belastend wie für deine Vorgängerin. Vielleicht war sie ja einfach dünnhäutig, wer weiß?«
Zum Nachdenken:
1. Was ist »Gesundheit«?
2. An welchen Symptomen erkennt man, dass die Gesundheit gefährdet ist?
3. Wieso können Personen durch dieselben Aufgaben unterschiedlich beansprucht sein?
4. Wann sprechen wir von »Belastungen«?
5. Wann führen Belastungen zu Burnout und was ist ein »Burnout«?
6. Welche Anforderungen erleben wir als motivierend?
»Gesundheit«, »Stress« und »Belastung« sind Begriffe, deren Bedeutung im alltäglichen Gespräch kaum einer Erläuterung bedürfen. Aber verstehen und meinen wir damit tatsächlich alle das Gleiche? Eine gemeinsame Sprache ist gerade bei diesem Thema wichtig, um sich zu verständigen und auf dieser Grundlage richtig agieren und reagieren zu können. In diesem Grundlagenkapitel werden deshalb diejenigen Begriffe und Modelle aus wissenschaftlicher Perspektive geklärt, die für die Auseinandersetzung mit der Gesundheit im Lehrberuf zentral sind.
In Kapitel 2.1 (
2.1 Grundlegende Begriffe
2.1.1 Biopsychosoziale Gesundheit
Wie in der Einleitung dieses Buches bereits festgehalten wurde, definierte die Weltgesundheitsorganisation WHO den Begriff der Gesundheit in ihrer Verfassung folgendermaßen: »Gesundheit ist der Zustand völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen« (WHO, 1946, S. 1). Dieses sogenannt biopsychosoziale Gesundheitsmodell ergänzt die körperliche Dimension durch psychische und soziale Aspekte von Gesundheit, die im Wechselspiel zueinanderstehen. In Abbildung 2.1 (
Während in industriellen Berufen die Prävention und der Gesundheitsschutz stark auf die körperliche Gesundheit ausgerichtet sind, stehen im Lehrberuf die psychosozialen Aspekte der Gesundheit im Fokus. Die psychosoziale Gesundheit ist auf der individuellen Ebene ein dynamisches Gleichgewicht »des Wohlbefindens, in dem der Einzelne seine intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen und produktiv und fruchtbar arbeiten kann, und imstande ist, seiner Gemeinschaft einen Beitrag zu leisten« (WHO, 2003, S. 4, Übersetzung der Autorinnen und des Autors). In dieser Definition sind zwei zentrale Aspekte enthalten: 1) Die psychische Seite der Gesundheit, die gewährleistet ist, wenn das Individuum in Übereinstimmung mit seinen Bedürfnissen, Überzeugungen und Fähigkeiten leben kann. Da wir Menschen soziale Wesen sind und in Gemeinschaften leben, braucht es jedoch zusätzlich 2) die soziale Seite der Gesundheit, die dann sichergestellt werden kann, wenn es dem Individuum gelingt, sich produktiv an die Gegebenheiten und Anforderungen des Kontexts anzupassen. In der Definition kommt zudem zum Ausdruck, dass Gesundheit kein »Zustand« ist und somit nicht statisch aufgefasst werden, sondern vielmehr einen vielschichtigen, dynamischen Prozess darstellt.
Abb. 2.1: Biopsychosoziales Gesundheitsmodell (eigene Darstellung in Anlehnung an Bauer und Jenny, 2007, S. 209)
2.1.2 Belastungen, Ressourcen, Bewältigung und Beanspruchung
Im Modell gemäß Abbildung 2.1 (
Belastungen sind dabei »diejenigen physischen, psychischen, sozialen oder organisatorischen Aspekte der Arbeit, die eine anhaltende physische und/oder psychische (d. h. kognitive oder emotionale) Anstrengung erfordern und daher mit bestimmten physiologischen und/oder psychologischen Kosten verbunden sind« (Schaufeli & Bakker, 2004, S. 296). Der Begriff bezieht sich auf Eigenschaften des Kontexts und nicht des Individuums und ist grundsätzlich neutral konnotiert. Belastungen können sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf das Individuum haben.
Ressourcen umfassen Aspekte im beruflichen Umfeld oder der arbeitenden Person, die a) funktional sind für das Erreichen von beruflichen Zielen, b) Belastungen bewältigen helfen und c) die Motivation, die Gesundheit und die persönliche Entwicklung fördern (Bakker & Demerouti, 2014, S. 9). Sie können in soziale und individuelle Ressourcen differenziert werden: Soziale Ressourcen befinden sich im Umfeld des Individuums und sind auf der Ebene der Organisation (z. B. Verdienst, Karrieremöglichkeiten, Sicherheit der Stelle), der sozialen Beziehungen (z. B. Unterstützung durch die Führungsperson, Team-Support, geteilte Werthaltungen), der Arbeitsorganisation (z. B. Rollenklarheit, Partizipation in Entscheidungsprozessen) oder der Aufgabe (z. B. Kompetenzerleben, Vielfältigkeit, Autonomie) zu lokalisieren (Bakker & Demerouti, 2014). Individuelle Ressourcen sind Merkmale des Individuums, die für die Bewältigung der beruflichen Belastungen und die Selbstverwirklichung