Gesunde Lehrkräfte in gesunden Schulen. Silvio Herzog
Auseinandersetzung mit der belastenden Situation neue Informationen ergeben, erfolgt eine Neubewertung. Lernt Julia beispielsweise die zuständige sonderpädagogische Förderlehrkraft kennen, die ihr Unterstützung zusichert, kann sich ihre sekundäre Einschätzung der Ressourcen verändern. Auch die ersten Schulwochen werden einen Anlass für Neubewertungen bilden. Unter anderem werden Julias Handlungen bei den Schülerinnen und Schülern selbst, aber möglicherweise auch bei den Eltern und der Schulleitung Reaktionen auslösen. Auf der Grundlage dieser Informationen wird sie besser einschätzen können, ob es ihr gelingt, mit der »schwierigen« Klasse umzugehen.
Das Fallbeispiel zeigt, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, mit Belastungen umzugehen. Die individuellen Bewertungen und Bewältigungsformen beeinflussen, ob und wie stark der Stress ist, den eine Anforderung auslöst. Solange man sicher ist, dass man eine sich stellende Anforderung bewältigen kann, muss man sich unter Umständen zwar beträchtlich anstrengen, erlebt aber keinen Stress (Kaluza, 2015, S. 8). Wie an belastende Situationen herangegangen wird, ist geprägt durch die Biografie sowie persönliche Motive, Einstellungen und Haltungen. Diese können dazu führen, dass neben den Anforderungen, die real bestehen, zusätzlicher Stress entsteht, indem man sich selbst unter Druck setzt. Solche persönlichen Stressverstärker sind mitentscheidend dafür, ob und wie stark Beanspruchungsreaktionen ausfallen (Kaluza, 2015, S. 7). Sie bilden den individuellen, im Laufe der Biografie entstandenen Hintergrund, vor dem gegenwärtige Anforderungen bewertet werden und eingeschätzt wird, welche Bedeutung der Situation beizumessen ist oder wie bedrohlich ein mögliches Scheitern subjektiv wirkt. Die bewusste Reflexion dieser Stressverstärker kann helfen, die individuellen Bewertungen bewusster zu steuern und den individuell erzeugten Stress zu verringern.
Wie die Einschätzung von Anforderungen sind auch Bewältigungsstrategien, insbesondere in stressauslösenden Situationen, oftmals stark automatisiert und laufen unbewusst ab (Busch & Sandmeier, 2019). Die Sicht ist dann auf das Problem fokussiert: In der Hoffnung, es schnell zu lösen, greift man mehr oder weniger unbewusst auf Strategien zurück, die in vermeintlich ähnlichen Situationen der Vergangenheit erfolgreich waren. Man reagiert unbewusst und gewohnheitsmäßig, anstatt bewusst zu agieren und alternative Bewältigungsstrategien zu prüfen. Obwohl die verschiedenen Bewältigungsstrategien nicht losgelöst vom konkreten Kontext nach ihrer Wirksamkeit oder Produktivität klassifiziert werden können, scheint ein problemorientierter Bewältigungsansatz den emotionszentrierten, indirekten Formen überlegen zu sein, da sich der Stressauslöser auf diese Weise eher bewältigen lässt (Herzog, 2007, S. 383).
Der alleinige Fokus auf die Frage, ob die Anforderung bewältigt wurde oder nicht, greift jedoch zu kurz, da auch erfolgreiche Verhaltensweisen mit Kosten in Bezug auf das Befinden und die Gesundheit verbunden sein können (Baeriswyl, Krause & Kunz Heim, 2014). Beispiele dafür sind das Leisten von Überstunden, Arbeit am Wochenende oder im Urlaub, der Verzicht auf Arbeitspausen oder Arbeit trotz Krankheit. Solche und ähnliche Verhaltensweisen nennen Krause, Berset und Peters (2015) interessierte Selbstgefährdung. Darunter werden Verhaltensweisen verstanden, die mit dem Ziel der Bewältigung arbeitsbezogener Anforderungen eingesetzt werden, jedoch zugleich die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Erkrankungen erhöhen oder die notwendige Regeneration verhindern.
Nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer potenziellen Selbstgefährdung stellt sich die Anschlussfrage, wann Stress gesundheitsgefährdend werden kann. Denn Stress selbst muss nicht zwangsläufig die Gesundheit gefährden oder zu Burnout führen. Gesundheitsbedrohlich wird Stress erst, wenn eine Anforderung über längere Zeit nicht zufriedenstellend bewältigt werden kann oder wenn es nicht möglich ist, sich von einer Anforderung zu distanzieren, weil dies von außen verunmöglicht wird oder weil die eigenen Ideale, Motive und Vorstellungen es nicht zulassen. Bakker und Demerouti (2014) sprechen von einem Teufelskreis, wenn Anforderungen über längere Zeit überfordern: Gestresste Personen nehmen einerseits neue Anforderungen und ihre Bewältigungsmöglichkeiten negativer wahr und zeigen andererseits ungünstige Verhaltensweisen, die von der Umwelt bemerkt werden (z. B. Verpassen von Terminen, mangelnde Erreichbarkeit, mangelnde Sensitivität in Gesprächen), was wiederum zu zusätzlichen Belastungen führen kann. Dauert ein solcher Teufelskreis über einen längeren Zeitraum an, kann die anhaltende Überforderung langfristig zu Burnout führen (
Grundsätzlich lässt sich zum Erschöpfungsprozesses somit Folgendes festhalten: Eine länger anhaltende Dysbalance zwischen Belastungen und Ressourcen führt in der Regel zu Überforderung und kann mittel- und langfristig zu Erschöpfung und Burnout führen. Wann aber sind berufliche Anforderungen motivierend und führen zu positiver Beanspruchung? Mit dieser Frage befasst sich das nächste Unterkapitel.
2.2.4 Motivationsprozess: Die Selbstbestimmungstheorie
Wie die vorhergehenden Ausführungen aufgezeigt haben, ist die Balance bzw. Dysbalance zwischen Belastungen und Ressourcen zentral für das Stresserleben. Dieselben Belastungen können für die eine Person überfordernd sein, während sie für die andere Person motivierend sind. Ressourcen helfen bei der Bewältigung von beruflichen Anforderungen und haben darüber hinaus eine direkte positive Auswirkung auf die Gesundheit und das Wohlbefinden. Der Grund dafür besteht darin, dass sie grundlegende psychische Bedürfnisse des Individuums befriedigen und auf diese Weise Stress entgegenwirken können. Auf diese Grundbedürfnisse wird nachfolgend genauer eingegangen.
Die Selbstbestimmungstheorie (Self-Determination-Theory) geht davon aus, dass Menschen drei psychische Grundbedürfnisse haben, die angeboren und universell sind: Sie wollen 1) Kompetenz erleben, 2) über Autonomie, das heißt Selbstbestimmung bezüglich ihres Lebens und ihrer Verhaltensweisen, verfügen sowie 3) Verbundenheit in einer Gemeinschaft spüren und enge, vertraute Beziehungen mit anderen aufbauen. Ist die Befriedigung dieser Bedürfnisse möglich, sind grundlegende Voraussetzungen dafür gegeben, dass der Mensch engagiert, effizient und psychisch gesund ist und dies auch bleibt (Ryan & Deci, 2000).
Das Bedürfnis nach Kompetenz manifestiert sich im Wunsch, sich fähig zu fühlen, die Umwelt gestalten zu können und erwünschte Wirkungen herbeizuführen. Dieses Bedürfnis steht als Antrieb hinter der Neigung, dass Menschen oftmals nach Aufgaben suchen, die ihre eigenen physischen oder psychischen Fähigkeiten herausfordern. Kompetenz kann erlebt werden, wenn die Anforderungen und Ziele – die eigenen wie auch jene aus dem Umfeld – zufriedenstellend bewältigt werden können. Dies wird erleichtert, wenn die beruflichen Aufgaben und Ziele klar definiert sind und das Individuum über genügend Gestaltungsmöglichkeiten und eigene Ressourcen verfügt, um diese Anforderungen für sich befriedigend zu erfüllen, und dafür auch Anerkennung von außen erhält.
Das Bedürfnis nach Autonomie beinhaltet den Wunsch nach Selbstbestimmung, eigenem Willen, Unabhängigkeit, Ermessensfreiheit und Wahl beim Ausführen einer Aktivität. Das Erleben von Autonomie bedeutet jedoch nicht, dass unabhängig von anderen gehandelt wird, sondern es geht vielmehr um die Möglichkeit, die eigenen Handlungen grundsätzlich selbst steuern zu können. Dies kann sich durchaus auch auf Handlungen beziehen, die in einem von anderen vorgegebenen Rahmen durchzuführen sind. Handlungskontexte unterstützen die Autonomie, wenn sie Wahlmöglichkeiten und Ermessenspielräume enthalten und wenn alle relevanten Informationen zur Verfügung stehen.
Das Bedürfnis nach Verbundenheit schließlich äußert sich im Wunsch, sich mit anderen verbunden zu fühlen, einer Gruppe anzugehören, zu lieben und sich um jemanden zu kümmern, beachtet zu werden und Achtung zu erhalten. Dieses Bedürfnis ist im Arbeitskontext erfüllt, wenn Angestellte sich als Teil eines Teams fühlen, Unterstützung und Anerkennung erfahren und sich frei fühlen, ihre Anliegen einzubringen.
Die Befriedigung der psychischen Grundbedürfnisse ist der zugrundeliegende motivationale Mechanismus, der menschliches Verhalten antreibt und leitet (Deci & Ryan, 1993). Menschen sind in der Regel dann engagiert, wenn sie in Kontexten agieren, die mit den drei Bedürfnissen kongruent sind. Allerdings variieren diese Kontexte teilweise beträchtlich im Grad, in dem sie die Befriedigung dieser Bedürfnisse zulassen oder behindern (Deci & Ryan, 2012, S. 86). Können diese Bedürfnisse im beruflichen Umfeld befriedigt werden,