Die Macht der virtuellen Distanz. Karen Sobel Lojeski
HOME‐Aspekt einzuordnen. Wir könnten beispielsweise die Zeitspanne wählen, in der wir als menschliche Spezies die Erde bevölkern (siehe Kasten »Wissenswertes«).
Wissenswertes
In einer Programmserie namens NOVA brachte der US‐amerikanische TV‐Sender PBS eine Dokumentation mit dem Titel A Rocky Start; sie führte den Zuschauern die wichtige Rolle vor Augen, die Felsgestein für die Entwicklung des Lebens auf der Erde gespielt hat.
Der Moderator ordnete unsere bisherige Geschichte auf dem Planeten in einen einzigen 24‐Stunden‐Tag ein. Auf dieser Zeitschiene:
tauchten die Menschen – von den ältesten Skeletten, die bisher gefunden wurden, bis hin zu jenen, die heute ein iPhone in der Hand halten – erst in den letzten 4 Sekunden auf,
streiften noch vor 20 Minuten Dinosaurier umher und
entstand unser Planet erst vor 23 Stunden.
Als Menschen sind wir also, gemessen an einer himmlischen Zeitskala, gerade erst in Erscheinung getreten.
Eine Erörterung des Begriffs »Zeit« hinsichtlich unserer Existenz auf der Erde würde ein weiteres Buch füllen, deshalb müssen wir uns auf die Ereignisse in unserer gegenwärtigen Arbeitswelt beschränken.
In unserem Modell der virtuellen Distanz definieren wir Zeit als Teil der physischen Distanz, weil sie an Zeitzonen und Terminpläne gebunden ist, deren Einzelheiten im 3. Kapitel erläutert werden.
Aus der breit gefächerten HOME‐Perspektive als Ausgangsbasis zählt auch der Unterschied zwischen den Generationen, das »Wann« unserer Lebenszeit, zu den häufig missverstandenen zeitzentrierten Elementen.
Wie beim »Wo« der Arbeit tragen unsere Benchmark‐Daten dazu bei, viele Fehleinschätzungen bezüglich des »Wann« der Arbeit zu klären – durch die Brille der Generationen betrachtet. Werfen wir also einen Blick auf die Daten entsprechend ihrer Generationen‐Verteilung.
Wie aus Abbildung E.6 ersichtlich, stammt die Mehrzahl der Personen, mit denen wir während der letzten zehn Jahre zusammengearbeitet haben, aus den Generationen X (Altersgruppe der ca. 1965 bis 1979 Geborenen) und Y (zwischen 1980 und 1999 geboren; auch Millennials genannt). Nur ein kleiner Prozentsatz gehört zur sogenannten stillen Generation (60+). Ungefähr 20% sind der Gruppe der Babyboomer zuzuordnen (alle, die nach dem Zweiten Weltkrieg das Licht der Welt erblickten), wobei der Prozentsatz der Erwerbstätigen aus der stillen und der Babyboomer‐Generation rückläufig ist, während die Anzahl der Millennials zunimmt.
Viele behaupten, es gäbe gravierende Unterschiede zwischen den Generationen. Auffallend ist vor allem die Auffassung, die Millennials wären als Gruppe »Digital Natives«: Sie seien mit der technologisch übermittelten Kommunikation seit ihrer Teenagerzeit vertraut und hätten sich während des größten Teils ihres Arbeitslebens damit befasst; sie fühlten sich in dieser Kommunikationsumgebung »heimisch«, seien darin aufgewachsen. Der Rest der Bevölkerung gehöre folglich zu den Technologie‐Immigranten im digital übermittelten Leben.
Abb. E.6: Benchmark‐Daten der virtuellen Distanz nach Generationen
Doch vor dieser Sichtweise auf die generationsspezifischen Unterschiede sei gewarnt. Sie mag verständlich sein, leistet aber genau wie die Konzentration auf die standortspezifischen Unterschiede falschen Vorstellungen von der Beschaffenheit und Auswirkung der geografischen Trennung Vorschub.
Zweifellos beherrschen einige Angehörige früherer Generationen die Nutzungsmöglichkeiten der Technologie als Kommunikationswerkzeug nicht aus dem Effeff, doch das trifft keineswegs auf alle zu. Eine solche Sichtweise stellt eine unzulässige Verallgemeinerung dar und schafft unnötigerweise eine Kluft, die sich zerstörerisch auf einen gemeinsamen Diskurs und eine gedeihliche Zusammenarbeit auswirken kann.
Andere schreiben der »Generation Y« bestimmte Persönlichkeitsmerkmale zu, die im Allgemeinen ebenso wenig den Tatsachen entsprechen, wie aus unseren Studien hervorgeht. Viele Millennials haben uns anvertraut, dass sie solche Unterstellungen frustrierend finden, gelinde ausgedrückt, ja sogar erbost darüber sind. Sie haben das Gefühl, dass die Technologie aus dieser Perspektive zum definierenden Aspekt einer ganzen Generation wird, obwohl sie genau wie andere Generationen individuelle Träume, Charaktereigenschaften, Interessen und Bestrebungen haben, die keineswegs mit der Technologie, sondern mit ihrer Identität verknüpft sind.
Fallbeispiel
Vor einiger Zeit hielt Greta Thunberg, eine mutige und pragmatische Teenagerin, vor den Vereinten Nationen eine Brandrede über die Gefahr einer nahenden Klimakatastrophe. Sie wies darauf hin, dass technologische Lösungen, »die kaum vorhanden sind«, ihre Generation nicht vor der möglicherweise lebensbeendenden Zerstörung durch Unwetter und Umweltverschmutzung bewahren können. Als Aktivistin und Stimme ihrer Generation forderte sie stattdessen Lösungen, die menschenbasiert, einfallsreich und unverzüglich umsetzbar sind, um die tickende Uhr aufzuhalten, mit der das CO2‐Budget schwindet.
Einer der erstaunlichsten Aspekte ist, dass sie aus der nächsten Generation stammt, den Jüngsten unter uns. Ihre Fokussierung auf die menschliche Kreativität, um ein politisches Rahmenwerk zu entwickeln, hat nichts mit technologischen Lösungen zu tun, zum Teil, weil sie noch nicht existieren, vor allem aber, weil es wichtiger und dringlicher ist, das menschliche Verhalten anzupassen.
Fazit: Millennials wünschen sich ähnliche Dinge vom Leben wie alle anderen Generationen: einen guten Job, ein erfülltes Sozialleben, finanzielle Sicherheit und Gründe für den Glauben an eine vielversprechende Zukunft. Angesichts der katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels gehört auch das Bedürfnis dazu, Mittel und Wege zu finden, die dazu beitragen, das Überleben der Menschheit zu sichern – ein Thema, das die Grenzen des Buches sprengen würde, aber den innersten Kern des »Wann« ihrer Lebenszeit beeinflusst. Wirtschaftsführer müssen sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass die Jugend eine Zukunft ins Auge fasst, die ein Auslöschen ihrer Nachkommen, wenn nicht gar ihrer eigenen Generation, mit sich bringen könnte.
Leider wird die HOME‐basierte Sicht auf »das Wann« unserer Lebenszeit, die nicht die Unterschiede, sondern die Ähnlichkeiten zwischen uns Menschen betont, von älteren Generationen oft vernachlässigt, weil ihnen beim Gedanken an die Jugend als Erstes die Fixierung auf ihre elektronischen Geräte in den Sinn kommt. Es gibt, wie bereits erwähnt, triftige Gründe, sich Sorgen über die soziale Isolation zu machen. Aber Führungskräfte, die einen genaueren Blick auf den Menschen werfen, der sich hinter den leuchtenden Bildschirmen verbirgt, erkennen, dass die Generation Y in besonders hohem Maß unter den Folgen der virtuellen Arbeit leidet, beispielsweise unter Depressionen, Ängsten und Unzufriedenheit mit ihrem Leben, auch ohne die oben beschriebenen fatalen Konsequenzen einzubeziehen.
Unsere Daten zeigen auch, dass Millennials größere Probleme mit »Fremdgruppen« haben, weil sich ihre Teams überwiegend aus Mitgliedern mit völlig unterschiedlicher Vorgeschichte zusammensetzen. In einer Arbeitswelt, in der zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit vier, wenn nicht sogar fünf Generation gleichzeitig zusammenarbeiten, ist das Gefühl von Zugehörigkeit bei den Millennials besonders schwach.
Die zugehörigkeitsbezogene virtuelle Distanz erzeugt insgesamt gesehen ein ausgeprägtes Siloverhalten. Doch wir haben festgestellt, dass dieses mangelnde Gefühl der Verbundenheit bei den Millennials auch andere Ursachen hat. Ein Beispiel ist die Gestaltung des Onboarding‐Prozesses. In vielen Unternehmen gibt es noch formale Eingliederungsprogramme, doch oft fehlt dabei die Fokussierung auf den Aufbau zwischenmenschlicher Beziehungen, sodass den frischgebackenen jungen Mitarbeitern Aufgaben zugewiesen werden, die vor allem darauf ausgerichtet sind, ihr technologisches Können zu nutzen. Bei dieser Vorgehensweise